Ausgang mit gewissem Risiko
56 Patienten sind im Südwesten vergangenes Jahr aus dem Maßregelvollzug entwichen
- Vier Personen innerhalb weniger Wochen haben sich aus dem Zentrum für Psychiatrie in Ravensburg-Weißenau abgesetzt. Dort werden Menschen untergebracht, die wegen einer psychischen Erkrankung nicht als Straftäter verurteilt werden können. Wie konnte es zu einer solchen Häufung von Fällen kommen? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Was ist passiert?
Ein 21-Jähriger ist am vergangenen Freitag aus dem Zentrum für Psychiatrie (ZfP) Südwürttemberg, Standort Weißenau, entwichen. Er hatte im Sommer 2022 einen Mann auf offener Straße mit dem Messer schwer verletzt. Weil er als schuldunfähig galt, wurde er in den Maßregelvollzug eingewiesen. Am Montag machte die Polizei nähere Informationen zu dem Mann und ein Fahndungsfoto öffentlich, am Dienstagmorgen wurde er nach einem Zeugenhinweis in Esslingen erkannt und von der Polizei aufgegriffen.
Zuvor hatten sich Ende letzten Jahres gleich drei Personen innerhalb weniger Wochen aus dem ZfP Weißenau abgesetzt. Darunter war einer, der als fremd- und eigengefährdend im Umgang mit Feuer galt sowie einer, der unter anderem wegen Sexualdelikten eingewiesen worden war. Alle drei Patienten wurden nach wenigen Tagen von der Polizei aufgegriffen.
Eine weitere Gemeinsamkeit: Alle vier Patienten hatten sich während eines Ausgangs abgesetzt. Die Behörden sprechen deswegen von einem Entweichen, nicht von einem Ausbruch. Letzteres wäre nur dann der Fall, wenn ein Patient Sicherungseinrichtungen überwindet oder Gewalt anwendet .
Vier abgängige Personen kurz nacheinander – hat das ZfP Südwürttemberg am Standort Weißenau ein besonderes Problem?
Das für den Maßregelvollzug zuständige Sozialministerium sagt: Nein. „Besondere Auffälligkeiten sind hier nicht festzustellen“, teilt ein Sprecher von Ressortchef Manfred Lucha (Grüne) mit. Dieter Grupp, Geschäftsführer des ZfP Südwürttemberg, sagt zur aktuellen Häufung von Fällen: „So etwas ist für uns neu.“Die Zahl der Entweichungen insgesamt habe sich über die vergangenen Jahre nicht geändert.
Wie oft kommt es vor, dass Patienten sich aus dem Maßregelvollzug absetzen?
Die Zentren für Psychiatrie haben nach Angaben des Sozialministeriums für das Jahr 2022 landesweit 56 Entweichungen gemeldet. Roswitha Hietel-Weniger, Ärztliche Direktorin der Forensischen Klinik Weißenau, nennt für ihre Einrichtung die
Zahl von 17 Fällen im vergangenen Jahr. Die meisten Patienten seien entweder freiwillig zurückgekehrt oder binnen weniger Tage von der Polizei gefasst worden.
Kritik kommt von der SPD. Jonas Weber, Experte der SPD-Landtagsfraktion für Strafvollzug, wirft Lucha Ignoranz vor. „Sozialminister Lucha trägt die Verantwortung dafür, Sicherheitsrisiken in allen Standorten auszuschließen und weitere Bedrohungslagen für die Bevölkerung zu vermeiden.“Die vom Minister nach den Entweichungen im vergangenen Jahr angekündigte Überprüfung der Sicherheitsvorkehrungen sei offenbar nicht sorgfältig genug gewesen.
Wieso haben psychisch kranke und womöglich für die Öffentlichkeit gefährliche Straftäter überhaupt Ausgang?
Wer in den Maßregelvollzug eingewiesen wird, ist rechtlich gesehen kein Strafgefangener, sondern Patient. Er soll – unter Beachtung der Sicherheit der Bevölkerung – geheilt und wieder in die Gesellschaft eingegliedert werden, heißt es vom Sozialministerium. Und weiter: „Um Behandlungsfortschritte zu überprüfen, sind Lockerungen, die in kleinen Schritten erfolgen, elementarer Bestandteil des Maßregelvollzugs.“Gesetzlich ist das im PsychischKranken-Hilfe-Gesetz geregelt.
Wann wird die Öffentlichkeit informiert, wenn eine Person aus dem Maßregelvollzug ausgebrochen oder entwichen ist?
Nicht immer bekommt es die Öffentlichkeit mit, wenn ein Patient sich absetzt. Ob öffentlich gefahndet
wird, ob ein Foto oder Informationen zu den begangenen Taten genannt werden, entscheidet nach Angaben des Landesjustizministeriums und des Landesdatenschützers in aller Regel die Staatsanwaltschaft oder ein Jugendrichter. Dabei sei zwischen den „schutzwürdigen Interessen des Beschuldigten und anderer Betroffener abzuwägen“, so eine Sprecherin von Justizministerin Marion Gentges (CDU). „Eine Öffentlichkeitsfahndung nach einem flüchtigen Verurteilten soll deshalb nur dann erfolgen, wenn dieser wegen einer Straftat von erheblicher Bedeutung verurteilt wurde, seine Unterbringung angeordnet wurde oder seine Ergreifung etwa wegen der Gefahr weiterer erheblicher Straftaten im öffentlichen Interesse liegt.“
Welche Rolle spielt die Überbelegung der Zentren für Psychiatrie?
Zum 30. November vergangenen Jahres waren bei einer vereinbarten Belegung von 1320 Betten landesweit 1398 Personen im Maßregelvollzug. Das Sozialministerium bemüht sich um Abhilfe. Durch Neubauten in Calw und Wiesloch entstehen Ende 2023 oder Anfang 2024 rund 100 neue Therapieplätze. In Schwäbisch Hall kommen 100 Plätze hinzu. In Heidelberg will das Land im ehemaligen Gefängnis „Fauler Pelz“eine Übergangslösung schaffen. Oberbürgermeister, Gemeinderat und Universität Heidelberg sind aber strikt dagegen, es laufen mehrere Verfahren.
Mehr Personal in den Psychiatrien fordert die Deutsche Polizeigewerkschaft (DPolG). Nach den Worten
des Landesvorsitzenden Ralf Kusterer wird die Polizei dort immer wieder zu Hilfe gerufen: „Der Personalschlüssel ist nach unserem Eindruck schlecht, so dass es immer wieder zu Amtshilfeanträgen bei Widersetzlichkeit in den Zentren für Psychiatrie kommt“, so Kusterer. „Damit können die Zentren im Grunde genommen auch nicht ihren Auftrag so erledigen wie sie es sollten.“Er regt an, den Einsatz privater Sicherheitsdienste zu prüfen.
Auch der SPD-Strafvollzugsexperte Weber kritisiert die begrenzten Kapazitäten als gefährlich: „Der andauernde Mangel an Plätzen sorgt für erheblichen Druck in den bestehenden Einrichtungen und stellt ein großes Sicherheitsrisiko dar.“
Der Bund will den Maßregelvollzug reformieren. Ist Entlastung zu erwarten?
Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hat ein entsprechendes Gesetz in Arbeit. Für Drogen- oder Alkoholabhängige soll die Möglichkeit enger gefasst werden, statt in ein Gefängnis in den Maßregelvollzug zu kommen. Das Stuttgarter Sozialministerium hofft darauf, dass das Gesetz bis zum Sommer vorliegt. Wenn es den Maßregelvollzug tatsächlich entlastet, wird davon im Bereich des ZfP Südwürttemberg vor allem der Standort Zwiefalten profitieren. Dort werden suchtkranke Patienten nach Straftaten untergebracht. Die beiden anderen Standorte Bad Schussenried und Weißenau sind für psychisch kranke Täter vorgesehen – so wie jenen 21-Jährigen, der sich am vergangenen Wochenende abgesetzt hat.