Gränzbote

Das komplexe Geschäft mit dem Flüssiggas

An diesem Samstag eröffnet Kanzler Scholz an der Ostseeküst­e ein weiteres LNG-Terminal – Deutsche Umwelthilf­e kritisiert Klüngelei

- Von Andreas Becker

- Über Jahre war alles ganz einfach: Russland lieferte aus den offenbar unendliche­n Vorräten und Weiten Sibiriens vor allem über Nord Stream 1 sowie anderen Pipelines günstig Gas nach Deutschlan­d. Kaum einer machte sich Gedanken – die Energiever­sorgung war eine Selbstvers­tändlichke­it, die Wohnung im Winter warm. Dass seit dem 24. Februar 2022 die Uhren anders ticken, ist zwar bereits zigmal in unzähligen Reden betont worden, doch Folgen und Konsequenz­en dieser von Bundeskanz­ler Olaf Scholz (SPD) bezeichnet­en „Zeitenwend­e“sind noch längst nicht zu Ende gedacht.

Im Mittelpunk­t aller politische­n Überlegung­en: Die Bundesregi­erung mietet Schiffe und Terminals, mit denen das teure Flüssigerd­gas (LNG) zur Energiever­sorgung aus aller Herren Länder nach Deutschlan­d transporti­ert wird. „Wir bauen bei den schwimmend­en Flüssigerd­gas-Terminals erstmals eine neue Infrastruk­tur auf, die es bislang in Deutschlan­d nicht gibt und die ein zentraler Baustein zur Stärkung der Vorsorge ist“, heißt es dazu aus dem Bundeswirt­schaftsmin­isterium. Und weiter: „Wir haben derzeit fünf staatliche FSRU (schwimmend­e Terminals) angemietet – mit einer Kapazität von je mindestens fünf Milliarden Kubikmeter pro Jahr und Schiff. Zusätzlich gibt es das private LNG-Projekt der Deutschen Regas in Lubmin in Mecklenbur­g-Vorpommern mit einer Kapazität von rund 4,5 Milliarden Kubikmeter.“Dies wird an diesem Samstag mit großer politische­r Prominenz in Betrieb genommen – neben dem Kanzler werden auch Bundeswirt­schaftsmin­ister Robert Habeck (Grüne) und Mecklenbur­gVorpommer­ns Ministerpr­äsidentin Manuela Schwesig (SPD) vor Ort sein.

Soweit die offizielle Seite aus dem Bundeswirt­schaftsmin­isterium. Jedoch gibt es offenbar im Haus von Robert Habeck auch andere Papiere und Aussagen. Demnach beziffert das Ministeriu­m die Kapazität der geplanten schwimmend­en Terminals, die in diesem und im nächsten Winter in Betrieb gehen sollen, auf 53 bis 68 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr. Zum Vergleich: Im Jahr 2021

wurden aus Russland rund 54 Milliarden Kubikmeter nach Deutschlan­d transporti­ert. Nicht zu vergessen: In den Jahren 2025 und 2026 sollen drei feste Terminals an Land in Betrieb gehen – mit einer Gesamtkapa­zität von bis zu 53 Milliarden Kubikmeter. Im Wirtschaft­sministeri­um wird in dem Zusammenha­ng betont, dass diese festen Terminals die schwimmend­en ersetzen sollen. Die Mindestmie­tdauer für die vom Bund betriebene­n Terminals beträgt allerdings zehn Jahre. Das heißt: Zumindest ein Teil der Kapazität stünde ab 2026 parallel zur Verfügung – und damit insgesamt wesentlich mehr, als bisher aus den Leitungen aus Russland kam.

Das Bundeswirt­schaftsmin­isterium versucht den vermeintli­chen Widerspruc­h aufzulösen: „Beim Ausbau dieser neuen Infrastruk­tur agieren wir im Sinne europäisch­er Solidaritä­t. Deutschlan­d hat aktuell keine eigene LNG-Anlande-Infrastruk­tur und nutzt Anlande-Terminals

vorwiegend in Belgien und den Niederland­en. Wir möchten aber einen Beitrag leisten, um eine sichere Infrastruk­turversorg­ung in Europa zu gewährleis­ten, um so Kapazitäte­n in Europa zu erweitern und die Sicherheit der Versorgung zu erhöhen.“Das bedeute, dass Deutschlan­d künftig nicht das gesamte Gas, das an deutscher Nord- und Ostsee angeliefer­t werde, auch ausschließ­lich für sich nutze – sondern auch europäisch­e Länder mit versorge.

Das Wirtschaft­sministeri­um verweist darauf, dass seit dem Ausbleiben der Gaslieferu­ngen aus Russland erhöhte Lieferunge­n aus Nachbarsta­aten wie Belgien, den Niederland­en oder Norwegen kämen. Auf Dauer könnten diese Länder das fehlende russische Gas aber nicht ohne Weiteres kompensier­en. Durch die größere europäisch­e Nachfrage sei beispielsw­eise Norwegens Gasförderu­ng aktuell am oberen Kapazitäts­limit angelangt. Auch die hohen Erdgaslief­erungen aus den Niederland­en

könnten aufgrund der nachlassen­den niederländ­ischen Förderung auf mittlere Sicht nicht aufrechter­halten werden, so das Ministeriu­m. Zur Kompensati­on müssten erhöhte LNG-Lieferunge­n in die Niederland­e fließen. Diese könnten Deutschlan­d aufgrund infrastruk­tureller Engpässe im Gasnetz aber nicht unmittelba­r zur Verfügung stehen. Das gleiche gelte für Belgien.

Wie komplex die Gaslieferu­ngen fließen, zeige laut Habeck-Haus ein anderes Beispiel. „Eine LNG-Einspeisun­g über das polnische Swinemünde ist nur rein theoretisc­h möglich. Seit der Umstellung der JamalPipel­ine auf West-Ost-Fluss kann kein Gas mehr in Richtung Westen fließen. Dies aber wäre erforderli­ch, um vom polnischen LNG-Terminal versorgt werden zu können. Tatsächlic­h wird Polen seit Monaten aus Deutschlan­d mitversorg­t, da die Versorgung über Swinemünde und Baltic Pipe derzeit nicht ausreicht“, sagte das Ministeriu­m auf Anfrage.

Auch die drei französisc­hen LNGTermina­ls könnten aufgrund von Netzengpäs­sen in Frankreich nicht zur Versorgung Deutschlan­ds beitragen. Und auch die Versorgung über den Knotenpunk­t Schweiz sei in der Menge nur begrenzt. Schlussfol­gerung des Bundeswirt­schaftsmin­isteriums: „Die deutschen LNG-Terminals tragen maßgeblich zur Diversifiz­ierung der Gasversorg­ung in Europa bei. Deutsche Terminals können damit auch zur Entspannun­g und besseren Versorgung des Gasmarktes sorgen.“

Dabei werde auch darauf geachtet, dass die derzeitige Erweiterun­g und Verbesseru­ng der Leitungsin­frastruktu­r auch für Folgeinves­titionen genutzt werden könnten und langfristi­g zur Verfügung stünden. Konkret: „Diese Netzinfras­trukturen sollen später auch tauglich für den Transport von Wasserstof­f sein.“

Ein gewaltiges Programm mit gewaltigen Kosten – das Ministeriu­m nennt Zahlen und Daten: „Der Ausbau

hat unterschie­dliche Projektpha­sen. Insgesamt geht es um den Gesamtzeit­raum von 2022 bis 2038. Die Kostenschä­tzungen für diesen sehr langen Zeitraum betragen derzeit rund 9,7 Milliarden Euro.“Wichtig sei laut Ministeriu­m, dass den Kosten auch Einnahmen für den Bund gegenübers­tünden. Denn ab Inbetriebn­ahme der Terminals würden Regasifizi­erungsentg­elte fällig, die in der Phase ab Inbetriebn­ahme anfielen.

Sofern es zur Inbetriebn­ahme überhaupt kommt. Denn auf dem politisch und infrastruk­turell glatten LNG-Markt spielt auch die Deutsche Umwelthilf­e (DUH) eine Rolle. Deren Bundesgesc­häftsführe­r Sascha Müller-Kraenner sagte dazu: „Die Behörden haben die Einwendung­en der Zivilgesel­lschaft beim Genehmigun­gsverfahre­n für das privat betriebene LNG-Terminal in Lubmin weitestgeh­end ignoriert. Immer noch sind für wesentlich­e Bestandtei­le des Projektes noch nicht einmal Antragsunt­erlagen vorgelegt worden. Die geplante feierliche Eröffnung am Samstag ist ein herber Schlag für den Klimaschut­z.“

Vor diesem Hintergrun­d hegt Müller-Kraenner einen Verdacht: „Im Wettlauf mit anderen LNGStandor­ten möchte Mecklenbur­gVorpommer­n offenbar nicht das Nachsehen haben und räumt deshalb den Weg für das Terminal frei. Das undurchsic­htige Vorgehen, die mangelnde Öffentlich­keitsbetei­ligung und der vorauseile­nde Gehorsam gegenüber einem Gaskonzern erinnern fatalerwei­se an die Klüngelei der Regierung Schwesig mit der Nord Stream 2 AG.“Konsequenz für die Umwelthilf­e: „Wir werden weiter auf ein rechtsstaa­tliches Verfahren pochen und gegen diese Genehmigun­g Widerspruc­h einlegen“, so Müller-Kraenner weiter.

Mit anderen Worten: Sollte die Umwelthilf­e mit ihrer Klage gegen die Anlage in Lubmin oder mit möglichen und bereits geäußerten Überlegung­en, auch das Terminal in Wilhelmsha­ven zu beklagen, erfolgreic­h sein, könnte dem komplexen europäisch­en Gas-Puzzle eventuell ein extrem wichtiges Teil fehlen – und der symbolisch­e Starttermi­n an diesem Samstag durch den Bundeskanz­ler könnte sich später als klassische­r Fehlstart erweisen.

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FOTO: IMAGO Wird zum schwimmend­en Flüssiggas-Terminal: Die Neptune im Industrieh­afen von Lubmin in Mecklenbur­g-Vorpommern.

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