Das komplexe Geschäft mit dem Flüssiggas
An diesem Samstag eröffnet Kanzler Scholz an der Ostseeküste ein weiteres LNG-Terminal – Deutsche Umwelthilfe kritisiert Klüngelei
- Über Jahre war alles ganz einfach: Russland lieferte aus den offenbar unendlichen Vorräten und Weiten Sibiriens vor allem über Nord Stream 1 sowie anderen Pipelines günstig Gas nach Deutschland. Kaum einer machte sich Gedanken – die Energieversorgung war eine Selbstverständlichkeit, die Wohnung im Winter warm. Dass seit dem 24. Februar 2022 die Uhren anders ticken, ist zwar bereits zigmal in unzähligen Reden betont worden, doch Folgen und Konsequenzen dieser von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bezeichneten „Zeitenwende“sind noch längst nicht zu Ende gedacht.
Im Mittelpunkt aller politischen Überlegungen: Die Bundesregierung mietet Schiffe und Terminals, mit denen das teure Flüssigerdgas (LNG) zur Energieversorgung aus aller Herren Länder nach Deutschland transportiert wird. „Wir bauen bei den schwimmenden Flüssigerdgas-Terminals erstmals eine neue Infrastruktur auf, die es bislang in Deutschland nicht gibt und die ein zentraler Baustein zur Stärkung der Vorsorge ist“, heißt es dazu aus dem Bundeswirtschaftsministerium. Und weiter: „Wir haben derzeit fünf staatliche FSRU (schwimmende Terminals) angemietet – mit einer Kapazität von je mindestens fünf Milliarden Kubikmeter pro Jahr und Schiff. Zusätzlich gibt es das private LNG-Projekt der Deutschen Regas in Lubmin in Mecklenburg-Vorpommern mit einer Kapazität von rund 4,5 Milliarden Kubikmeter.“Dies wird an diesem Samstag mit großer politischer Prominenz in Betrieb genommen – neben dem Kanzler werden auch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und MecklenburgVorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) vor Ort sein.
Soweit die offizielle Seite aus dem Bundeswirtschaftsministerium. Jedoch gibt es offenbar im Haus von Robert Habeck auch andere Papiere und Aussagen. Demnach beziffert das Ministerium die Kapazität der geplanten schwimmenden Terminals, die in diesem und im nächsten Winter in Betrieb gehen sollen, auf 53 bis 68 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr. Zum Vergleich: Im Jahr 2021
wurden aus Russland rund 54 Milliarden Kubikmeter nach Deutschland transportiert. Nicht zu vergessen: In den Jahren 2025 und 2026 sollen drei feste Terminals an Land in Betrieb gehen – mit einer Gesamtkapazität von bis zu 53 Milliarden Kubikmeter. Im Wirtschaftsministerium wird in dem Zusammenhang betont, dass diese festen Terminals die schwimmenden ersetzen sollen. Die Mindestmietdauer für die vom Bund betriebenen Terminals beträgt allerdings zehn Jahre. Das heißt: Zumindest ein Teil der Kapazität stünde ab 2026 parallel zur Verfügung – und damit insgesamt wesentlich mehr, als bisher aus den Leitungen aus Russland kam.
Das Bundeswirtschaftsministerium versucht den vermeintlichen Widerspruch aufzulösen: „Beim Ausbau dieser neuen Infrastruktur agieren wir im Sinne europäischer Solidarität. Deutschland hat aktuell keine eigene LNG-Anlande-Infrastruktur und nutzt Anlande-Terminals
vorwiegend in Belgien und den Niederlanden. Wir möchten aber einen Beitrag leisten, um eine sichere Infrastrukturversorgung in Europa zu gewährleisten, um so Kapazitäten in Europa zu erweitern und die Sicherheit der Versorgung zu erhöhen.“Das bedeute, dass Deutschland künftig nicht das gesamte Gas, das an deutscher Nord- und Ostsee angeliefert werde, auch ausschließlich für sich nutze – sondern auch europäische Länder mit versorge.
Das Wirtschaftsministerium verweist darauf, dass seit dem Ausbleiben der Gaslieferungen aus Russland erhöhte Lieferungen aus Nachbarstaaten wie Belgien, den Niederlanden oder Norwegen kämen. Auf Dauer könnten diese Länder das fehlende russische Gas aber nicht ohne Weiteres kompensieren. Durch die größere europäische Nachfrage sei beispielsweise Norwegens Gasförderung aktuell am oberen Kapazitätslimit angelangt. Auch die hohen Erdgaslieferungen aus den Niederlanden
könnten aufgrund der nachlassenden niederländischen Förderung auf mittlere Sicht nicht aufrechterhalten werden, so das Ministerium. Zur Kompensation müssten erhöhte LNG-Lieferungen in die Niederlande fließen. Diese könnten Deutschland aufgrund infrastruktureller Engpässe im Gasnetz aber nicht unmittelbar zur Verfügung stehen. Das gleiche gelte für Belgien.
Wie komplex die Gaslieferungen fließen, zeige laut Habeck-Haus ein anderes Beispiel. „Eine LNG-Einspeisung über das polnische Swinemünde ist nur rein theoretisch möglich. Seit der Umstellung der JamalPipeline auf West-Ost-Fluss kann kein Gas mehr in Richtung Westen fließen. Dies aber wäre erforderlich, um vom polnischen LNG-Terminal versorgt werden zu können. Tatsächlich wird Polen seit Monaten aus Deutschland mitversorgt, da die Versorgung über Swinemünde und Baltic Pipe derzeit nicht ausreicht“, sagte das Ministerium auf Anfrage.
Auch die drei französischen LNGTerminals könnten aufgrund von Netzengpässen in Frankreich nicht zur Versorgung Deutschlands beitragen. Und auch die Versorgung über den Knotenpunkt Schweiz sei in der Menge nur begrenzt. Schlussfolgerung des Bundeswirtschaftsministeriums: „Die deutschen LNG-Terminals tragen maßgeblich zur Diversifizierung der Gasversorgung in Europa bei. Deutsche Terminals können damit auch zur Entspannung und besseren Versorgung des Gasmarktes sorgen.“
Dabei werde auch darauf geachtet, dass die derzeitige Erweiterung und Verbesserung der Leitungsinfrastruktur auch für Folgeinvestitionen genutzt werden könnten und langfristig zur Verfügung stünden. Konkret: „Diese Netzinfrastrukturen sollen später auch tauglich für den Transport von Wasserstoff sein.“
Ein gewaltiges Programm mit gewaltigen Kosten – das Ministerium nennt Zahlen und Daten: „Der Ausbau
hat unterschiedliche Projektphasen. Insgesamt geht es um den Gesamtzeitraum von 2022 bis 2038. Die Kostenschätzungen für diesen sehr langen Zeitraum betragen derzeit rund 9,7 Milliarden Euro.“Wichtig sei laut Ministerium, dass den Kosten auch Einnahmen für den Bund gegenüberstünden. Denn ab Inbetriebnahme der Terminals würden Regasifizierungsentgelte fällig, die in der Phase ab Inbetriebnahme anfielen.
Sofern es zur Inbetriebnahme überhaupt kommt. Denn auf dem politisch und infrastrukturell glatten LNG-Markt spielt auch die Deutsche Umwelthilfe (DUH) eine Rolle. Deren Bundesgeschäftsführer Sascha Müller-Kraenner sagte dazu: „Die Behörden haben die Einwendungen der Zivilgesellschaft beim Genehmigungsverfahren für das privat betriebene LNG-Terminal in Lubmin weitestgehend ignoriert. Immer noch sind für wesentliche Bestandteile des Projektes noch nicht einmal Antragsunterlagen vorgelegt worden. Die geplante feierliche Eröffnung am Samstag ist ein herber Schlag für den Klimaschutz.“
Vor diesem Hintergrund hegt Müller-Kraenner einen Verdacht: „Im Wettlauf mit anderen LNGStandorten möchte MecklenburgVorpommern offenbar nicht das Nachsehen haben und räumt deshalb den Weg für das Terminal frei. Das undurchsichtige Vorgehen, die mangelnde Öffentlichkeitsbeteiligung und der vorauseilende Gehorsam gegenüber einem Gaskonzern erinnern fatalerweise an die Klüngelei der Regierung Schwesig mit der Nord Stream 2 AG.“Konsequenz für die Umwelthilfe: „Wir werden weiter auf ein rechtsstaatliches Verfahren pochen und gegen diese Genehmigung Widerspruch einlegen“, so Müller-Kraenner weiter.
Mit anderen Worten: Sollte die Umwelthilfe mit ihrer Klage gegen die Anlage in Lubmin oder mit möglichen und bereits geäußerten Überlegungen, auch das Terminal in Wilhelmshaven zu beklagen, erfolgreich sein, könnte dem komplexen europäischen Gas-Puzzle eventuell ein extrem wichtiges Teil fehlen – und der symbolische Starttermin an diesem Samstag durch den Bundeskanzler könnte sich später als klassischer Fehlstart erweisen.