Ein Jahr zum Vergessen
Erstmals seit 150 Jahren haben sowohl Aktien als auch Anleihen in den USA an Wert verloren
- 2022 war in vielerlei Hinsicht ein erinnerungswürdiges Jahr. „Für die meisten Anleger war es jedoch ein Jahr zum Vergessen“, sagt Ulrich Stephan, Chefanlagestratege für Privat- und Firmenkunden bei der Deutschen Bank. Grund: Fast alle großen Aktienindizes schlossen tief im Minus. Der international ausgerichtete Index S&P 500 verzeichnete die viertschlechteste Jahresperformance seit dem Zweiten Weltkrieg und verlor in US-Dollar mehr als 18 Prozent. Da konnte sich der Deutsche Aktienindex Dax mit einem Minus von zwölf Prozent ja fast noch sehen lassen. Die Crux an der Sache ist aber, dass auch Anleiheinvestoren von der Abwärtsentwicklung nicht verschont blieben. Abzulesen ist dies etwa an dem Leitindex für zehnjährige USAnleihen, die um 15 Prozent in die Knie gingen. Dies war die schlechteste Performance seit 1788. Auch der Bund-Future, an dem sich der deutsche Rentenmarkt orientiert, ließ mit einem Minus von 22 Prozent kräftig Federn. 2022 gingen also Aktien- und Rentenmarkt synchron auf Talfahrt, was eine sehr ungewöhnliche Entwicklung darstellt. In den USA etwa hat man das seit 150 Jahren nicht mehr gesehen, dass sowohl Aktien als auch Anleihen mehr als zehn Prozent in einem Jahr verlieren.
Damit konterkarierte der Kapitalmarkt 2022 eine uralte Anlageregel, wonach sich die Wertentwicklungen von Aktien und Bonds, also Anleihen, in der Regel gegenläufig verhalten.
So steigen bei guter Konjunkturentwicklung in aller Regel sowohl Aktienkurse als auch Anleiherenditen. Weil aber die steigenden Bondrenditen Kursverluste bei den bereits emittierten Papieren verursachen, stehen somit den Gewinnen bei Aktien Verluste bei Bonds gegenüber. Im umgekehrten Fall lassen trübe
Konjunkturaussichten Aktienkurse sinken, parallel dazu ist aber aufgrund sinkender Bondrenditen mit steigenden Bondkursen zu rechnen. Da sich die Performanceeffekte von Anleihen und Aktien somit, zumindest teilweise, ausgleichen, können mit gemischten Portfolios ordentliche Erträge unter reduzierten Schwankungen erzielt werden. Anders ausgedrückt: Da bisher bei einer ausgewogenen Mischung aus Aktien und Renten im Depot eine gegenläufige Entwicklung der Renditen zu erwarten war, haben sich diese Assetklassen gegenseitig absichert. Dieser Annahme von Anlegern hat der Kapitalmarkt nun einen Streich gespielt.
Angesichts dieser Entwicklung kann 2023 eigentlich nur besser werden als das Vorjahr – und in der Tat
zeigt sich Stephan optimistisch. „Wenngleich es erneut unruhig werden dürfte, sollte 2023 ein neuer Bullenmarkt beginnen“, sagt er. Bis wann es so weit ist, lässt sich jedoch schwer vorhersagen. „Vermutlich beginnt er erst, wenn die Notenbanken aufhören, ihre Zinsen anzuheben“, meint Stephan. Denn zumeist drehen die Kurse erst dann nachhaltig nach oben, wenn sich abzeichnet, dass der nächste Leitzinsschritt nicht mehr nach oben, sondern wieder nach unten zeigt. Daher dürfte auch der fulminante Start in das neue Aktienjahr noch auf wackeligen Füßen stehen. Rückschläge würden keinen verwundern. So sieht das Research der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW) in der ersten Jahreshälfte 2023 tendenziell eher sinkende Aktienkurse, bevor es dann in der zweiten Jahreshälfte zu einer markanten Erholung kommen werde. Der S&P500 sollte dann laut LBBW per Ultimo 2023 wieder „markant höher“
liegen als derzeit. Ebenso bleiben die Risiken am Rentenmarkt beträchtlich, auch wenn aufgrund stark gestiegener Ausgangsrenditen die Aussichten deutlich besser geworden sind, meint Moritz Kraemer, Chefvolkswirt der LBBW. Das heißt, so lange die Europäische Zentralbank (EZB) die Weichen auf Zinserhöhung gestellt hat, drohen weitere Kursverluste am Rentenmarkt. Bis dahin traut Kraemer der Notenbank für 2023 noch mindestens zwei weitere Zinserhöhungen um jeweils 0,5 Prozent zu. Damit bleiben für Anleihen „die Risiken klar auf der Oberseite“, wie Kraemer sagt. Anleger, die Anleihen mit einem ordentlichen Rating, dem sogenannten „Investment Grade“, im Depot liegen haben, brauchen sich allerdings nur bedingt zu sorgen. Auf dem Papier haben ihre Titel zwar an Wert verloren, gute Emittenten aber zahlen die Anleihen am Ende der Laufzeit zu 100 Prozent zurück. So lange muss man sich eben gedulden.