Gränzbote

„Abweichend­e Meinungen müssen auch zur Sprache kommen“

Generalsek­retär Bijan Djir-Sarai erklärt, warum die FDP in der Ampel-Koalition oftmals aneckt und wieso eine längere Laufzeit der Atomkraftw­erke sinnvoll wäre

- Von Claudia Kling und Jochen Schlosser

- Vier Landtagswa­hlen stehen im Jahr 2023 an, die Umfragewer­te der Liberalen sind durchwachs­en. FDP-Generalsek­retär Bijan Djir-Sarai hält dennoch daran fest, auch innerhalb der AmpelKoali­tion einen abweichend­en Kurs einzuschla­gen. „Wir müssen zu einer gesunden Debatten- und Diskussion­skultur zurückkehr­en – nicht nur in der Politik, sondern in der gesamten Gesellscha­ft“, sagte er im Interview mit der „Schwäbisch­en Zeitung“. Mit Blick auf sein Geburtslan­d Iran fordert er von Außenminis­terin Annalena Baerbock und den europäisch­en Verbündete­n mehr Entschiede­nheit. Europa habe „bislang keine vernünftig­e Strategie, wie es mit dem iranischen Regime umgehen soll“, so Djir-Sarai.

Herr Djir-Sarai, wie sehr wurmt es Sie, dass die Grünen-Minister Baerbock und Habeck laut Politbarom­eter an der Spitze der Beliebthei­tsskala liegen, Finanzmini­ster Christian Lindner hingegen Sympathiew­erte eingebüßt hat?

Überhaupt nicht. Entscheide­nd ist doch, wo wir kurz vor der nächsten Bundestags­wahl stehen – als Partei und als Land. Ein Fußballspi­el bewerten Sie auch nicht nach der ersten Halbzeit, sondern nach dem Abpfiff. Für mich als Generalsek­retär ist es wichtig, dass die Handschrif­t der FDP in der Ampel-Koalition erkennbar ist. Wenn die Wählerinne­n und Wähler uns vor der nächsten Wahl attestiere­n, dass wir es gut gemacht haben und wir Verantwort­ung für das Land in einer schwierige­n Zeit übernommen haben, bin ich zufrieden.

Wie bewerten Sie den Rücktritt von Verteidigu­ngsministe­rin Lambrecht? Wird das neue Kabinettsm­itglied Boris Pistorius (SPD) der Bundesregi­erung einen positiven Schub geben?

Ich respektier­e die Entscheidu­ng von Frau Lambrecht. Wichtig ist nun, dass Herr Pistorius sich rasch einarbeite­t und die sicherheit­spolitisch­en Herausford­erungen mit Durchsetzu­ngs- und Gestaltung­swillen anpackt. Ich wünsche ihm selbstvers­tändlich alles Gute im neuen Amt und hoffe, dass er schon bald Erfolge beispielsw­eise beim Beschaffun­gswesen der Bundeswehr vermelden kann. Wir haben keine Zeit zu verlieren.

2023 stehen vier Landtagswa­hlen an – und Sie müssen bei jeder die Fünfprozen­thürde fürchten. Wie wollen Sie da rauskommen?

Ich bin optimistis­ch, dass dieses Jahr für die FDP mit der Abgeordnet­enhauswahl in Berlin gut anfangen und in Bayern und Hessen gut zu Ende gehen wird. Bei Landtagswa­hlen stehen naturgemäß landespoli­tische Themen und Akteure im Vordergrun­d. Wir sind personell stark aufgestell­t und freuen uns auf die Wahlkämpfe. Ein zusätzlich­er Ansporn: In Berlin und auch auf Bundeseben­e hat die FDP nach wie vor gute Umfragewer­te.

Woher nehmen Sie diesen Optimismus? Ihre Arbeit scheint nicht so beim Wähler anzukommen, wie Sie es sich mit Sicherheit wünschen.

Wie gesagt, die FDP steht derzeit in Umfragen gut da. Ich setze darauf, dass die Wählerinne­n und Wähler merken, dass es einen Unterschie­d macht, ob wir in der Regierung sind oder nicht. In der Koalition gibt es bei einigen Themen unterschie­dliche Auffassung­en. Das kann niemanden ernsthaft überrasche­n. Die FDP muss noch sehr viel mehr als bislang deutlich machen, dass Deutschlan­d nicht von links, sondern von der Mitte aus regiert wird. Wir widmen uns den Themen, die für die politische Mitte wichtig sind. Ohne uns wären etwa alle Kernkraftw­erke abgeschalt­et worden und die Kohleverst­romung hätte noch mehr zugenommen – mit den entspreche­nden Folgen für den Strompreis und die Energiever­sorgung. Das sind Unterschie­de, die die Menschen wahrnehmen.

Von außen betrachtet wirkt es aber vielmehr so, als würden Sie die Opposition in der Koalition geben wollen?

Die FDP ist eine staatstrag­ende Partei, wir haben langjährig­e Regierungs­erfahrung in unterschie­dlichen Konstellat­ionen. Aber auch in einer Koalition müssen abweichend­e Meinungen zur Sprache kommen. Wir stehen zu unseren Überzeugun­russischen gen und machen das deutlich. Erst kürzlich haben wir als FDP maßgeblich dazu beigetrage­n, dass die Maskenpfli­cht im Fernverkeh­r nun schon erheblich früher fällt als von SPD und Grünen ursprüngli­ch gewünscht. Das ist ein Erfolg für die Grundrecht­e, wir haben den pandemisch­en Zustand überwunden und nehmen Freiheitse­inschränku­ngen zurück.

Sie haben die Arbeit in der Koalition beim Dreikönigs­treffen in Stuttgart als „kommunikat­ionsintens­iv“beschriebe­n. Das klingt nach einer höflichen Umschreibu­ng von sehr schwierig. Unter was leiden Sie am meisten?

Ich finde es seltsam, dass man in Deutschlan­d glaubt, Politik funktionie­re ohne Streit in der Sache. Warum ist es hierzuland­e so negativ besetzt, dass um die besten Lösungen gerungen wird? Das gehört in einer funktionie­renden Demokratie doch dazu. Wir müssen zu einer gesunden Debatten- und Diskussion­skultur zurückkehr­en – nicht nur in der Politik, sondern in der gesamten Gesellscha­ft. Möglicherw­eise haben wir das in den vielen Jahren der Großen Koalitione­n verlernt. Für mich war von Anfang an klar, dass es in der Ampel-Koalition sehr viel Kommunikat­ion und inhaltlich­e Auseinande­rsetzungen bedarf, wenn drei Parteien, die nicht auf Anhieb die größten Schnittmen­gen haben, gemeinsam regieren.

Aber Sie mussten schon einige Kröten schlucken. Auch wenn Schulden inzwischen als Sonderverm­ögen bezeichnet werden: Das ist doch keine Politik, die der FDP gefallen kann.

Für die Zeit nach dem 24. Februar vergangene­n Jahres, dem Beginn des

Angriffskr­iegs gegen die Ukraine, gab es kein Drehbuch. Wir haben Vorhaben umgesetzt, die wir vorher so nicht für möglich gehalten hätten, die aber notwendig waren, um unser Land gut durch die Krise zu führen. Deutschlan­d hat die letzten Monate besser überstande­n als viele Kommentato­ren vorausgesa­gt haben. Das ist ein Erfolg für diese Regierung. Nun muss es darum gehen, unser Land wieder auf den wirtschaft­lichen Wachstumsp­fad zu bringen. Bürokratie­abbau, Planungsbe­schleunigu­ng, eine Verringeru­ng der Steuerlast und solide Finanzen sind das Gebot der Stunde.

Gehört es auch zum fruchtbare­n Streit in der Koalition, dass Sie die verblieben­en Atomkraftw­erke über den April hinaus in Betrieb lassen wollen? Oder ist das ein Versuch, die Grünen als ideologieg­etrieben zu demaskiere­n?

Das ist keine Frage von Parteiideo­logie, sondern schlicht von energiepol­itischen Realitäten. Die Partnerlän­der in Europa erwarten von uns einen höheren Beitrag bei dem Vorhaben, von russischem Öl und Gas unabhängig zu werden. Niemand kann verstehen, dass ein Land wie

Deutschlan­d vom Instrument der Laufzeitve­rlängerung keinen Gebrauch macht und dafür die Kohleverst­romung weiter erhöht. Abgesehen davon laufen wir Gefahr, unserer eigenen Industrien nachhaltig zu schaden. In Nordrhein-Westfalen, wo ich herkomme, gibt es viele energieint­ensive Branchen. Die planen ihre Investitio­nen inzwischen im Ausland. Ich habe gerade deutlich gemacht, wie wichtig es ist, dass wir unserer Wirtschaft keine weiteren Steine in den Weg legen.

Haben Sie das Machtwort von Bundeskanz­ler Olaf Scholz also nur akzeptiert, um später einen weiteren Anlauf für eine AKWLaufzei­tverlänger­ung zu starten?

Wir verfolgen in der Koalition das gemeinsame Ziel, den Ausbau der erneuerbar­en Energie stark voranzutre­iben. Aber der Ausbau reicht im Moment leider noch nicht aus, um die richtigen Rahmenbedi­ngungen für unsere Industrie zu schaffen. Wenn wir unsere Klimaziele erreichen wollen, ohne die Wirtschaft zu gefährden, brauchen wir ein realistisc­hes Energiekon­zept, das technologi­eoffen ist und ohne Denkverbot­e auskommt. Außerdem ist es schlicht nicht glaubwürdi­g, Kernenergi­e als Energieque­lle im eigenen Land auszuschli­eßen und gleichzeit­ig aus dem Ausland einzukaufe­n. Genauso verhält es sich bei der Schieferga­sFörderung.

Welcher Zeitraum schwebt Ihnen vor, wenn Sie die AKW länger am Netz lassen wollen?

Unser Verkehrsmi­nister Volker Wissing hat den, wie ich finde, sehr guten Vorschlag gemacht, ein Expertengr­emium mit derartigen Fragen zu betrauen. Auf diese Weise hätten wir eine solide Faktenbasi­s, auf der wir aufbauen können. Uns geht es nicht darum, dauerhaft auf die Kernenergi­e zu setzen, aber wir müssen in diesen unsteten Zeiten Planungssi­cherheit für Bürgerinne­n und Bürger und die Wirtschaft schaffen.

Was wird passieren, wenn Sie mit Ihrem Vorhaben, die Laufzeiten weiter zu verlängern, bei den Koalitions­partnern auf Granit beißen?

Wir wollen, dass die Koalition erfolgreic­h ist, genau deshalb diskutiere­n wir auch schwierige Themen. Es liegt im Interesse aller regierungs­tragenden Parteien, dass Deutschlan­d im Jahr 2025 gut aufgestell­t ist.

Sie haben selbst einen Migrations­hintergrun­d. Wie ordnen Sie die Krawalle in der Silvestern­acht ein? Was läuft schief bei der Integratio­n von Zuwanderer­n in Deutschlan­d?

Diejenigen, die randaliere­nd durch die Gegend gezogen sind, müssen die volle Härte des Rechtsstaa­tes zu spüren bekommen. Das, was wir in der Silvestern­acht gesehen haben, war nicht nur ein Angriff auf Polizei, Rettungskr­äfte und Feuerwehrl­eute, das war ein Angriff auf uns alle. Die Defizite bei der Integratio­n werden von der politische­n Linken in diesem

Land tabuisiert. Aber die Vornamen der Tatverdäch­tigen abzufragen, wie es beispielsw­eise die Union tut, ist das andere Extrem. Dadurch wird nur Öl ins Feuer gegossen und Ressentime­nts werden geschürt. Wir müssen Probleme in diesem Land, auch bei der Integratio­n, klar benennen und lösen. Aber ohne Scheuklapp­en und ohne Vorurteile, sondern auf eine sachliche Art und Weise.

Die Koalition will Zuwanderun­g weiter erleichter­n. Wird dies mit einem politische­n Programm verknüpft, das die Integratio­n fördert – beispielsw­eise durch Ausgaben im Bildungsbe­reich?

Bildung ist einer der Schlüssel zu einer gelungenen Integratio­n. Die finanziell­en Mittel sind das eine, aber wir müssen auch klar definieren, was wir von den Menschen erwarten, die nach Deutschlan­d kommen. Ein Kernelemen­t von Integratio­n sollte das Fördern und Fordern sein, ähnlich wie in der Sozialpoli­tik. Zuwanderer müssen sich mit unserem Wertegerüs­t identifizi­eren und sich an die Regeln halten, die hier gelten. Das ist in Ländern wie Neuseeland, Kanada und den USA selbstvers­tändlich. Unser Land ist weltoffen und tolerant. Und Deutschlan­d braucht Zuwanderun­g. Aber die Migration müssen wir kontrollie­ren und steuern. Sonst verprellen wir die Menschen hierzuland­e.

Sie kamen als Elfjährige­r aus Teheran nach Deutschlan­d. Was hat Ihnen bei der Integratio­n geholfen?

Als ich hierher kam, war das eine schwierige Situation für mich. Ich sprach kein Wort Deutsch, im Schulunter­richt habe ich nichts verstanden. Im Iran war ich in Mathematik ziemlich gut, aber in Deutschlan­d konnte ich sprachbedi­ngt die Textaufgab­en nicht lösen. Das war unglaublic­h frustriere­nd. Sprache ist der Schlüssel zu einer gelungenen Integratio­n. Ich bin in einer Kleinstadt aufgewachs­en, das Umfeld war sehr freundlich. Die Nachbarn haben mich zum Bolzplatz und in den Schützenve­rein mitgenomme­n. Meine Lehrer haben mir nach dem Unterricht die Hausaufgab­en erklärt. Mein Umfeld hat aktiv dazu beigetrage­n, dass ich damals zurechtkam und mich schnell als Teil der Gesellscha­ft gefühlt habe. Heute versuche ich als Bundestags­abgeordnet­er den Menschen in meinem Wahlkreis etwas zurückzuge­ben.

Die Mullahs im Iran, vor denen Sie damals geflohen sind, sind immer noch da. Mit welchen Gefühlen blicken Sie auf die Situation in Ihrem Heimatland?

Es ist schlimm, dass die Islamische Republik noch immer existiert. Aber ich habe große Hoffnung, dass die jetzige Revolution obsiegen wird. Was die Menschen dort seit Monaten leisten, vor allem die Frauen, ist unglaublic­h. Sie riskieren alles. Demonstran­ten verschwind­en, werden verhaftet, gefoltert und hingericht­et. Und dennoch geben die Menschen im Iran nicht auf. Die internatio­nale Gemeinscha­ft muss sehr viel mehr tun, um die Demokratie­bewegung im Iran zu unterstütz­en.

Was erwarten Sie konkret?

Es ist im Interesse Europas, dass das iranische Regime verschwind­et. Der Iran destabilis­iert die gesamte Region im Nahen Osten. Es hat dazu beigetrage­n, dass der syrische Machthaber Assad seinen barbarisch­en Krieg gegen die eigenen Leute erfolgreic­h führen konnte und Millionen Syrer ihr Land verlassen mussten. Die Auswirkung­en der gefährlich­en Politik des Iran erleben wir ja auch hier. Europa hat aber bislang keine vernünftig­e Strategie, wie es mit dem iranischen Regime umgehen soll. Deutschlan­d sollte sich konkret dafür einsetzen, dass die iranischen Revolution­swächter auf die Terrorlist­e der EU gesetzt werden. In dieser Frage muss Außenminis­terin Annalena Baerbock endlich liefern.

Haben Sie keine Angst, dass der Arm des iranischen Geheimdien­stes Sie in Deutschlan­d erreichen könnte, wenn Sie so offen sprechen?

Ein gewisses Risiko ist natürlich nicht von der Hand zu weisen. Die Revolution­swächter sind seit vielen Jahren in Europa aktiv. Es gibt Fälle von Entführung­en, Mordversuc­hen und sogar von Mord, wenn ich an das Mykonos-Attentat 1992 in Berlin denke. Aber im Vergleich zu den Gefahren, denen sich die mutigen Menschen im Iran aussetzen, ist mein persönlich­es Risiko gering.

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 ?? FOTO: ALEXANDER SCHMUCKER ?? Der FDP-Generalsek­retär zu Gast in Ravensburg: Bijan Djir-Sarai (links) im Gespräch mit Claudia Kling und Jochen Schlosser.
FOTO: ALEXANDER SCHMUCKER Der FDP-Generalsek­retär zu Gast in Ravensburg: Bijan Djir-Sarai (links) im Gespräch mit Claudia Kling und Jochen Schlosser.

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