Grauenhafte Zufallstreffer
Russland setzt in der Ukraine auch auf wenig präzise Monsterwaffen aus dem Kalten Krieg
- Er wolle ein Beispiel für zivilisiertes Benehmen geben, erklärte Oleksij Arestowytsch. „Ich habe einen grundsätzlichen Fehler gemacht, also trete ich zurück“, sagte der ukrainische Präsidentenberater am Dienstag und reichte seinen Abschied ein. Damit reagierte der wortgewaltige Militärexperte, vorher eher als Schönredner verschrien, auf die Verratsvorwürfe, denen er seit Samstag ausgesetzt war.
Am Samstagmittag hatte in Dnipro eine russische Ch-22-Rakete ein neunstöckiges Wohnhaus getroffen. Aus den Trümmern wurden bisher 45 Todesopfer geborgen, noch immer wird nach Vermissten gesucht. Abends dann erklärte Arestowytsch in einer YouTube-Show, vermutlich habe die ukrainische Luftabwehr die Rakete abgeschossen. Die russischen Medien griffen seine Worte freudig auf: „Arestowytsch hat die Beteiligung des ukrainischen Militärs an der Wohnhausexplosion eingestanden“, schrieb das Portal ura.ru. Und Kremlsprecher Dmitri Peskow versicherte, Russland veranstalte keine Angriffe gegen Wohn- oder Sozialobjekte, berief sich dabei auf „Schlussfolgerungen gewisser ukrainischer Vertreter“– also auf Arestowytsch.
Tatsächlich ist auf allen Videos von dem Einschlag im Haus 118 an der Uferstraße des Sieges nur eine Explosion zu hören. Bei einem Abschuss der Ch-22 durch eine Flak-Rakete hätten es zwei sein müssen. Und
Mikola Oleschtschuk, Kommandeur der ukrainischen Luftwaffe, erklärte, die ukrainischen Streitkräfte besäßen keine Waffen, um eine Ch-22 abzufangen. Diese Meinung teilen auch die Experten. „Die Russen setzen diese ballistischen Raketen ja auch ein, weil es sehr schwierig ist, sie zu stoppen“, sagt Oleksy Melnyj, früherer Kampfflieger und Sicherheitsexperte des Kiewer Rasumkow-Instituts. Selbst die Patriot-Systeme, die die USA der Ukraine demnächst liefern, träfen anfliegende Ch-22 unter idealen Bedingungen nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 70 Prozent.
Die Ch-22 werden auch „Flugzeugträgerkiller“genannt. Ungetüme des Kalten Krieges, mit hochgiftigem Treibstoff, tonnenschweren Sprengköpfen und einer Geschwindigkeit von rund 4000 Stundenkilometern,
die aus TU-22-Bombern gestartet werden. Die Sowjets entwickelten sie schon in den 1960er-Jahren, um US-Flugzeugträger und ihren Geleitschutz zu versenken. Aber Ch-22 sind keine wirklichen Präzisionswaffen, Fehlschüsse 600 Meter daneben gelten noch als Erfolg. Damit sie ihre Ziele trotzdem zerstören, bestückte man sie anfangs mit Nuklearsprengköpfen.
Jetzt schlagen sie in ukrainischen Plattenbauten ein. Nach Angaben des Kiewer Verteidigungsministeriums hat Russland inzwischen 208 Ch-22 abgefeuert und noch 162 in Reserve. Während seit dem 24. Februar von damals 2257 strategischen Raketen nur 536 übrig geblieben seien. „Solche Waffen sind sehr teuer, nur in bescheidenen Stückzahlen verfügbar und ziemlich langsam herzustellen“, schreibt das US-Rüstungsportal 19fortyfive.com. Die alternden Ch-22 füllten diese Lücke. Aber die Blutspur, die sie hinterlassen, hat oft etwas grauenhaft Zufälliges.
Am 9. Mai 2022 zerstörte eine Ch-22-Salve im Dorf Fontanka bei Odessa Geschäfte, Lager und Wohnhäuser, ein Mensch kam um. Am 27. Juni schlug eine Ch-22 in einem Einkaufszentrum in Krementschug ein, es gab 20 Tote. Am 1. Juli trafen drei Raketen in der Kleinstadt Sergejewka bei Odessa ein Wohnhaus und ein Erholungsheim, 21 Menschen starben. Und zu den 45 Toten in Dnipro sagte der ukrainische Luftwaffensprechrer Jurij Ignat dem TV-Kanal Current Time, eine Rakete mit 600 Meter Abweichung und mit 950Kilogramm-Sprengkopf auf eine dicht besiedelte Großstadt abzuschießen, sei ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Experte Melnyk glaubt, Russland wolle seinen Raketenkrieg gegen die Ukraine fortsetzen, selbst wenn es dabei Marschflugkörper einsetzen müsse, die als Reserve für einen möglichen Konflikt mit der NATO bestimmt seien. Der bisherige Befehlshaber der russischen UkraineStreitmacht Sergei Surowikin habe seine Amtszeit im Oktober mit massiven Raketenangriffen gestartet, sein Nachfolger Waleri Gerassimow mache es jetzt genauso. Melnyk zitiert in dieser Frage den Schriftsteller Mark Twain: „Wenn dein einziges Werkzeug ein Hammer ist, wirst du jedes Problem als Nagel betrachten.“