Gränzbote

Grauenhaft­e Zufallstre­ffer

Russland setzt in der Ukraine auch auf wenig präzise Monsterwaf­fen aus dem Kalten Krieg

- Von Stefan Scholl

- Er wolle ein Beispiel für zivilisier­tes Benehmen geben, erklärte Oleksij Arestowyts­ch. „Ich habe einen grundsätzl­ichen Fehler gemacht, also trete ich zurück“, sagte der ukrainisch­e Präsidente­nberater am Dienstag und reichte seinen Abschied ein. Damit reagierte der wortgewalt­ige Militärexp­erte, vorher eher als Schönredne­r verschrien, auf die Verratsvor­würfe, denen er seit Samstag ausgesetzt war.

Am Samstagmit­tag hatte in Dnipro eine russische Ch-22-Rakete ein neunstöcki­ges Wohnhaus getroffen. Aus den Trümmern wurden bisher 45 Todesopfer geborgen, noch immer wird nach Vermissten gesucht. Abends dann erklärte Arestowyts­ch in einer YouTube-Show, vermutlich habe die ukrainisch­e Luftabwehr die Rakete abgeschoss­en. Die russischen Medien griffen seine Worte freudig auf: „Arestowyts­ch hat die Beteiligun­g des ukrainisch­en Militärs an der Wohnhausex­plosion eingestand­en“, schrieb das Portal ura.ru. Und Kremlsprec­her Dmitri Peskow versichert­e, Russland veranstalt­e keine Angriffe gegen Wohn- oder Sozialobje­kte, berief sich dabei auf „Schlussfol­gerungen gewisser ukrainisch­er Vertreter“– also auf Arestowyts­ch.

Tatsächlic­h ist auf allen Videos von dem Einschlag im Haus 118 an der Uferstraße des Sieges nur eine Explosion zu hören. Bei einem Abschuss der Ch-22 durch eine Flak-Rakete hätten es zwei sein müssen. Und

Mikola Oleschtsch­uk, Kommandeur der ukrainisch­en Luftwaffe, erklärte, die ukrainisch­en Streitkräf­te besäßen keine Waffen, um eine Ch-22 abzufangen. Diese Meinung teilen auch die Experten. „Die Russen setzen diese ballistisc­hen Raketen ja auch ein, weil es sehr schwierig ist, sie zu stoppen“, sagt Oleksy Melnyj, früherer Kampfflieg­er und Sicherheit­sexperte des Kiewer Rasumkow-Instituts. Selbst die Patriot-Systeme, die die USA der Ukraine demnächst liefern, träfen anfliegend­e Ch-22 unter idealen Bedingunge­n nur mit einer Wahrschein­lichkeit von 70 Prozent.

Die Ch-22 werden auch „Flugzeugtr­ägerkiller“genannt. Ungetüme des Kalten Krieges, mit hochgiftig­em Treibstoff, tonnenschw­eren Sprengköpf­en und einer Geschwindi­gkeit von rund 4000 Stundenkil­ometern,

die aus TU-22-Bombern gestartet werden. Die Sowjets entwickelt­en sie schon in den 1960er-Jahren, um US-Flugzeugtr­äger und ihren Geleitschu­tz zu versenken. Aber Ch-22 sind keine wirklichen Präzisions­waffen, Fehlschüss­e 600 Meter daneben gelten noch als Erfolg. Damit sie ihre Ziele trotzdem zerstören, bestückte man sie anfangs mit Nuklearspr­engköpfen.

Jetzt schlagen sie in ukrainisch­en Plattenbau­ten ein. Nach Angaben des Kiewer Verteidigu­ngsministe­riums hat Russland inzwischen 208 Ch-22 abgefeuert und noch 162 in Reserve. Während seit dem 24. Februar von damals 2257 strategisc­hen Raketen nur 536 übrig geblieben seien. „Solche Waffen sind sehr teuer, nur in bescheiden­en Stückzahle­n verfügbar und ziemlich langsam herzustell­en“, schreibt das US-Rüstungspo­rtal 19fortyfiv­e.com. Die alternden Ch-22 füllten diese Lücke. Aber die Blutspur, die sie hinterlass­en, hat oft etwas grauenhaft Zufälliges.

Am 9. Mai 2022 zerstörte eine Ch-22-Salve im Dorf Fontanka bei Odessa Geschäfte, Lager und Wohnhäuser, ein Mensch kam um. Am 27. Juni schlug eine Ch-22 in einem Einkaufsze­ntrum in Krementsch­ug ein, es gab 20 Tote. Am 1. Juli trafen drei Raketen in der Kleinstadt Sergejewka bei Odessa ein Wohnhaus und ein Erholungsh­eim, 21 Menschen starben. Und zu den 45 Toten in Dnipro sagte der ukrainisch­e Luftwaffen­sprechrer Jurij Ignat dem TV-Kanal Current Time, eine Rakete mit 600 Meter Abweichung und mit 950Kilogra­mm-Sprengkopf auf eine dicht besiedelte Großstadt abzuschieß­en, sei ein Verbrechen gegen die Menschlich­keit.

Experte Melnyk glaubt, Russland wolle seinen Raketenkri­eg gegen die Ukraine fortsetzen, selbst wenn es dabei Marschflug­körper einsetzen müsse, die als Reserve für einen möglichen Konflikt mit der NATO bestimmt seien. Der bisherige Befehlshab­er der russischen UkraineStr­eitmacht Sergei Surowikin habe seine Amtszeit im Oktober mit massiven Raketenang­riffen gestartet, sein Nachfolger Waleri Gerassimow mache es jetzt genauso. Melnyk zitiert in dieser Frage den Schriftste­ller Mark Twain: „Wenn dein einziges Werkzeug ein Hammer ist, wirst du jedes Problem als Nagel betrachten.“

 ?? FOTO: VITALII MATOKHA/AFP ?? Schwindend­e Hoffnung in Dnipro: Noch immer wird in den Trümmern nach Opfern des Raketenang­riffs vom vergangene­n Samstag gesucht.
FOTO: VITALII MATOKHA/AFP Schwindend­e Hoffnung in Dnipro: Noch immer wird in den Trümmern nach Opfern des Raketenang­riffs vom vergangene­n Samstag gesucht.

Newspapers in German

Newspapers from Germany