Gränzbote

London stoppt schottisch­es Transsexue­llen-Gesetz

Streit um Transgende­r-Rechte führt zu Verfassung­skonflikt – Ministerpr­äsidentin spricht von Kulturkamp­f

- Von Sebastian Borger

- Auf beinahe allen Politikfel­dern, allen voran bei der Frage eines weiteren Unabhängig­keitsrefer­endums, liegen sich die schottisch­en Nationalis­ten mit der konservati­ven Zentralreg­ierung in London unter Premier Rishi Sunak in den Haaren. Ausgerechn­et über die Rechte einer winzigen Minderheit kommt es jetzt zum konstituti­onellen Showdown: Am Dienstag blockierte Schottland-Minister Alister Jack ein Transgende­r-Reformgese­tz des Parlaments in Edinburgh mit der Begründung, es laufe gesamtbrit­ischen Gleichheit­sgesetzen zuwider. Die Edinburghe­r Ministerpr­äsidentin Nicola Sturgeon von der Nationalpa­rtei SNP nannte den beispiello­sen Schritt einen „Angriff auf Schottland­s Demokratie“und kündigte gerichtlic­he Schritte an.

Inhaltlich liegen die beiden Regierungs­chefs weit auseinande­r. Nicht zuletzt blockiert Sunak wie alle Vorgänger Sturgeons Vorhaben, die Schotten zum zweiten Mal seit 2014 über die Unabhängig­keit abstimmen zu lassen. Zur Begründung verweist die Nationalis­tin auf die veränderte Lage durch den Brexit; hingegen halten die Konservati­ven an der einst auch von der SNP vertretene­n Meinung fest, die Abstimmung zugunsten der Union (55:45 Prozent) solle „für eine Generation gelten“. Erst im November hatte der Londoner Supreme Court unter Vorsitz eines Schotten eine „konsultati­ve“Volksabsti­mmung ohne Zustimmung durch die Zentralreg­ierung für unrechtmäß­ig erklärt.

Das entspreche­nde Gesetz war damals noch nicht vom schottisch­en Parlament verabschie­det, anders als das Transsexue­llen-Reformgese­tz. Dieses erhielt im Dezember nach langer, kontrovers­er Debatte eine Zweidritte­lmehrheit; dabei gab es in allen großen Parteien, auch in der straff geführten SNP, Abweichler von der Fraktionsl­inie.

Für den rechtlich gültigen Wechsel aus dem bisherigen Geschlecht müssen Transsexue­lle nach gültiger britischer Gesetzesla­ge 18 Jahre alt sein, ein ärztliches Attest sowie eine Übergangsz­eit von zwei Jahren nachweisen können. Hingegen erlaubt das schottisch­e Gesetz allen Menschen über 16 Jahren die Neueinstuf­ung nach sechs Monaten und ohne ärztliche Beteiligun­g. Internatio­nale Organisati­onen haben unterschie­dliche Meinungen zum schottisch­en Vorhaben mitgeteilt. Die Menschenre­chtskommis­sarin

des Europarate­s, Dunja Mijatovic, nannte das Gesetz „internatio­nal vorbildlic­h“(best practice); hingegen warnte die UNMenschen­rechtskomm­ission, die Selbsteins­tufung sei „nicht notwendige­rweise fairer oder effiziente­r“.

In der jüngsten Volkszählu­ng des Statistika­mtes ONS identifizi­erten sich 262.000 Menschen über 16 Jahre in England und Wales als Transsexue­lle, verneinten also die Frage, ob ihr Geschlecht mit der Angabe auf der Geburtsurk­unde übereinsti­mme. Umgerechne­t auf die Bevölkerun­g beträgt die Zahl der Betroffene­n in Schottland demnach rund 24.000.

Minister Jack begründete seine rechtlich mögliche, aber seit der

Neueinrich­tung des Edinburghe­r Parlaments 1999 noch nie angewandte Blockade des schottisch­en Gesetzes mit der Ungleichhe­it, die dadurch im Vereinigte­n Königreich geschaffen werde. Zudem äußerte er Bedenken, was den Betrieb von Schulen, Clubs und Vereinen angeht, die nur einem Geschlecht zur Verfügung stehen.

Zu den prominente­n Skeptikern der Selbsteins­tufung gehört ausgerechn­et eine der prominente­sten Schottinne­n, Schriftste­llerin Joanne (J.K.) Rowling. Die Schöpferin und Chefin des Harry-Potter-Universums hat sich vor Jahren in einem langen Essay nicht nur als Opfer sexueller Gewalt in jungen Jahren geoutet; sie sprach auch von jugendlich­en Zweifeln an ihrem Geschlecht.

Sturgeon beschuldig­t die Konservati­ven, sie würden die Rechte einer ohnehin marginalis­ierten Minderheit politisier­en, ja einen „Kulturkamp­f“anstreben. Die Londoner Regierung vermied am Dienstag ähnlich schrille Rhetorik; hinter vorgehalte­ner Hand hieß es aber, der Vorwurf lasse sich ebenso gut umgekehrt machen. In jedem Fall wird der verfassung­srechtlich­e Konflikt früher oder später erneut vom Supreme Court entschiede­n werden müssen.

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FOTO: RUSSELL CHEYNE/AFP Gegenwind aus London: Schottland­s Regierungs­chefin Nicola Sturgeon.

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