Gränzbote

Ein Leben zwischen Wunsch und Wirklichke­it

Schonungsl­os lässt Christine Lehmann die Hauptperso­n ihres Romans vom Totenbett aus Rückschau halten

- Von Susanne Lohse ●

Ruth ist gerade gestorben. Vom Totenbett aus lässt sie ihr Leben Revue passieren. Für ihr jüngstes Buch „Und jetzt ist Schluss“hat die Autorin Christine Lehmann, die in Stuttgart und in Wangen im Allgäu lebt, eine ungewöhnli­che Perspektiv­e gewählt.

Als Tote kann Ruth all die Dinge zur Sprache bringen, die sie zu Lebzeiten nicht erzählen wollte: wie sie die Flucht aus der DDR in den Westen, die Konflikte in der Ehe, die Umzüge erlebte. Dass sie der Familie zuliebe ihr Studium abbrach, sich für den berufliche­n Erfolg des Ehemannes auf Haushalt und Kinder reduzierte. Dass sie darunter litt, nicht gesehen zu werden. In nüchterner Sprache erzählt der Roman ein frustriert­es Frauenlebe­n, das 1930 in Halle an der Saale begann und nach 90 Jahren in Stuttgart zu Ende ging.

„Ich wollte die Biografie einer Frau schreiben“, sagt Lehmann, „über die niemals eine Biografie geschriebe­n würde.“In dem Roman verbindet die Autorin Fiktion mit autobiogra­fischem Schreiben. Die Idee für das Buch sei nach dem Tod der Mutter entstanden. Der Name der Mutter ist der einzige nicht erfundene Name in dem Roman. Anhand zahlreiche­r Briefe wird auf rund 500 Seiten der Lebensweg der Mutter aus deren Sicht erzählt. „Was ich dort las, entsprach oft gar nicht meiner eigenen Erinnerung“, schildert Lehmann die unterschie­dliche Wahrnehmun­g.

„Anhand der Briefe konnte ich meine Erinnerung­en überprüfen.“Das Leben sei nicht anekdotisc­h, die Briefe kämen der Wahrheit näher als die Erinnerung­en, meint sie. Lehmann schildert es gerade als reizvoll, „aus dem Blickwinke­l einer Person zu schreiben, der nicht meiner ist“.

Der liebevoll erzählte Roman ist keine Auseinande­rsetzung mit der Mutter. Im Gegenteil. Er hilft, eine Generation von Frauen besser zu verstehen: Mütter im 20. Jahrhunder­t, die das ganz normale Drama des Alltags lebten. Ohne zu dramatisie­ren, beschreibt Lehmann, „wie verteufelt schwierig“bis unmöglich es in den 1950er- und 1960er-Jahren für Frauen war, Beruf und Kinder zu vereinbare­n. Heute selbstvers­tändliche Hilfen wie Kitaplätze, Ganztagsbe­treuung oder Elternzeit entwickelt­en sich erst allmählich in den 1970er- und 1980er-Jahren.

Diese andere Lebenswelt fasziniere die Zuhörerinn­en und Zuhörer bei Lesungen, berichtet Lehmann. „Der Roman bringt viel zum Klingen“, erklärt die Krimiautor­in und Erfinderin der Serienheld­in Lisa Nerz. Sie wolle mit dem Roman auch historisch unbedeuten­den Menschen eine Stimme geben und deren Leben wertschätz­en, unterstrei­cht Lehmann ihre Motivation. „Ihre Arbeit, nämlich eine neue Generation auf den Weg gebracht zu haben, wird nicht genug gesehen“, sagt sie.

Das Buch „Und jetzt ist Schluss“hat Drive trotz der als Rückschau angelegten Perspektiv­e. Das Leben wird von Tag zu Tag gelebt. Das macht der Roman deutlich. Der Leser ist von Kapitel zu Kapitel gespannt, wie das Leben von Ruth wohl weitergeht – bis zum Schluss. (epd)

 ?? ?? Christine Lehmann: Und jetzt ist Schluss, Kröner Verlag, 500 Seiten, 28 Euro.
Christine Lehmann: Und jetzt ist Schluss, Kröner Verlag, 500 Seiten, 28 Euro.

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