Gränzbote

Auf den Schock folgen Trauer und Entsetzen

Mordermitt­lungen gegen Mitbewohne­rin nach Brand in Reutlinger Pflegeheim mit drei Toten – Sozialmini­ster Lucha vor Ort

- Von Kathrin Kammerer

- Was die Reutlinger Polizei am Mittwoch um 14.28 Uhr mitteilt, rückt den schon tragischen Abend in ein noch dramatisch­eres Licht. Bei einem Brand in einem sozialpsyc­hiatrische­n Fachpflege­heim der GP.rt in der Oberlinstr­aße sind am Dienstagab­end drei Menschen gestorben: eine 53-jährige Frau sowie zwei 73 und 88 Jahre alte Männer. Nun steht ein schlimmer Verdacht im Raum: Eine 57-Jährige, die ebenfalls in der betroffene­n Wohngruppe gelebt hat, soll das Feuer absichtlic­h gelegt haben. Gegen sie wird wegen des Verdachts auf dreifachen Mord und elffachen Mordversuc­h ermittelt.

Diese neuen Erkenntnis­se der Polizei dürften Geschäftsf­ührer Professor Gerhard Längle und sein Team schwer treffen. Kommentier­en darf Längle sie wegen der Schweigepf­licht aber nicht. Das Medienecho auf den Brand ist schon am Mittwochmo­rgen, noch bevor von Mord die Rede ist, übermächti­g. Kameramänn­er und Reporter aus nah und fern sind nach Reutlingen gekommen, laufen über das winterlich-idyllische Gaisbühl-Gelände. Kaum etwas weist noch auf die dramatisch­en Szenen hin, die sich einige Stunden zuvor hier abgespielt haben.

Ein Zugang zum betroffene­n Gebäude ist noch mit Polizeiabs­perrband abgesperrt. Je näher man dem Brandort kommt, desto stärker riecht es noch immer nach Rauch. Bewohner sind keine zu sehen. Pfleger weisen Journalist­en freundlich-bestimmt darauf hin, dass sie dem Gebäude nicht zu nahe kommen und hinter einem Zaun warten sollen. Ein blauer Minibus fährt aufs Gelände, in weiße Anzüge gehüllte Mitglieder der Spurensich­erung steigen aus.

Geschäftsf­ührer Längle und Ronald Hensel, der fachliche Betriebsle­iter der Einrichtun­g, geben am laufenden Band Interviews. Beide wirken extrem müde, ringen sichtlich um Fassung. „Wir bemühen uns um Normalität, eine ruhige Atmosphäre für alle Bewohner“, sagt Längle mit leiser Stimme. „Wir haben auch mehr Mitarbeite­r im Dienst als sonst, Seelsorger sind ebenfalls hier“, ergänzt Hensel. Priorität habe nun die Betreuung der anderen Bewohner und auch der Mitarbeite­r. Im Fachpflege­heim sind 38 Menschen untergebra­cht, die psychisch krank sind. Die Menschen leben in Wohngruppe­n. In einer Gruppe mit sieben Bewohnern brach das verheerend­e

Feuer aus. Vom Auslösen der Brandmelde­anlage bis zum Eindringen des ersten Feuerwehrt­rupps in die Wohnung vergingen zwölf bis 15 Minuten, berichtet Einsatzlei­ter Martin Reicherter.

Die Feuerwehrl­eute fanden drei tote Bewohner vor – löschen mussten sie aber kaum noch. „Uns alle hat wirklich erstaunt, welche Hitze dort geherrscht haben muss und wie schnell der Brand vorangesch­ritten ist“, erzählt Reicherter. Telefonapp­arate seien geschmolze­n, im Bewohnerzi­mmer, in dem der Brand ausbrach, habe man nur noch die verkohlten Reste des Lattenrost­es gefunden.

Es ist das Zimmer der Frau, die nun unter dringendem Mordverdac­ht steht.

Zugang zu den Räumen bekommen Journalist­en an diesem Mittwoch nicht. Feuerwehre­insatzleit­er Reicherter kann aber berichten: Die Wohngruppe habe ein offenes Wohnzimmer in der Mitte, die Bewohnerzi­mmer seien drum herum angeordnet. Nur eins von vielen tragischen Elementen: Das Zimmer, in dem der Brand ausbrach, liegt direkt an der Wohnungstü­re. Die immense Brand- und Hitzeentwi­cklung habe den anderen Bewohnern eine Flucht nahezu unmöglich gemacht.

Sieben Menschen waren zum Brandzeitp­unkt in der Wohnung. Zwei von ihnen waren in ihren geschlosse­nen Zimmern – sie überlebten unverletzt. Was zum nächsten tragischen Aspekt führt. Die Zimmertüre­n sind rauchdicht, berichtet Einsatzlei­ter Reicherter. Wäre der Brand später ausgebroch­en und wären die anderen Bewohner auch auf ihren Zimmern gewesen, hätten sie vielleicht eine Chance gehabt.

Noch am Brandabend berichtete­n die Einsatzkrä­fte, dass ihnen beim Eintreffen am Brandort „eine Person mit rußgeschwä­rztem Gesicht“entgegenka­m. Das war die Bewohnerin

des Brandzimme­rs, also jene Frau, die nun unter Mordverdac­ht steht. Sie liegt schwer verletzt in einer Klinik, ist jedoch außer Lebensgefa­hr.

Die Feuerwehr stand am Dienstagab­end zunächst vor einer geschlosse­nen Türe, hatte nicht direkt Zutritt zur Wohngruppe, berichtet Reicherter. Die Türe habe einen Knauf gehabt. Sein Fahrzeugfü­hrer habe geistesgeg­enwärtig reagiert und eine Betreuerin nach dem Schlüssel gefragt. Alternativ hätten die Einsatzkrä­fte den richtigen Schlüssel an einem extra für die Feuerwehr bereitgest­ellten Bund mit rund 20 Schlüsseln finden müssen.

Das hätte deutlich mehr Zeit gekostet. „Eine solche Türe können wir nicht einschlage­n“, sagt Reicherter. „Die ist darauf ausgelegt, 30 Minuten Brand standzuhal­ten.“Auch im Wohnbereic­h waren einzelne Zimmer abgeschlos­sen, da es sich ja um Privaträum­e handelt. Die Menschen waren nicht eingeschlo­ssen – ein Gerücht, das am Mittwoch in Reutlingen die Runde machte.

Am Mittag nach dem Brand ist auf dem Gaisbühl oft die Rede von Schuld und Trauer. Eugen Brysch, der Vorstand der Stiftung Patientens­chutz, hat infolge des Brands die Sicherheit­sstandards in Pflegeeinr­ichtungen kritisiert. Er fordert Sprinklera­nlagen in diesen. Landesgesu­ndheitsmin­ister Manne Lucha (Grüne), der angereist ist, um sein Beileid auszudrück­en und Blumen niederzule­gen, reagiert darauf voller Unverständ­nis: „Ich hätte mir gewünscht, dass Herr Brysch erst seine Trauer zum Ausdruck bringt. Außerdem: Wer von uns hat daheim eine Sprinklera­nlage über dem Bett?“

In der betroffene­n Wohngruppe selbst haben keine gehbehinde­rten Menschen gelebt, betont Einrichtun­gsleiter Längle. Generell sind die Bewohner des Fachpflege­heims neben ihrer psychische­n Erkrankung aber auch auf Pflege angewiesen. Die meisten sind älter als 50 Jahre.

Man habe alle geltenden Brandschut­zvorschrif­ten eingehalte­n, so Längle weiter. In der Wohngruppe hätten kurzzeitig schätzungs­weise 300 Grad geherrscht, sagt Einsatzlei­ter Reicherter. Und: „Niemand ist verbrannt.“Rauchgas und Giftstoffe, die beispielsw­eise freigesetz­t werden, wenn Matratzen brennen, seien wohl tödlich gewesen. Für die Feuerwehrl­eute jedenfalls war der Einsatz immens belastend. Einige mussten danach psychologi­sch nachbetreu­t werden. Feuerwehra­rzt Markus Böbel habe schon in der Nacht versucht, ihnen jeden Anflug von Schuldgefü­hlen zu nehmen, so Reicherter. Auf dem Gaisbühl will man so schnell wie möglich wieder zur Normalität zurückkehr­en. Die Bewohner der benachbart­en Wohngruppe waren nach dem Brand evakuiert worden. Sie können ihre Zimmer bald wieder beziehen, so Längle.

Die kriminalpo­lizeiliche­n Ermittlung­en und Untersuchu­ngen dauern indes an. Die Staatsanwa­ltschaft Tübingen prüft, ob bei der 57-jährigen Beschuldig­ten „die Voraussetz­ungen für eine einstweili­ge Unterbring­ung in einem psychiatri­schen Krankenhau­s vorliegen“.

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FOTO: DENNIS DUDDEK/ EIBNER PRESSEFOTO/IMAGO Nach dem Brand in einem Reutlinger Pflegeheim für psychisch kranke Menschen ermittelt die Tübinger Staatsanwa­ltschaft wegen Mordverdac­hts. Das Feuer ist am späten Dienstagab­end im Obergescho­ss in einem Zimmer einer mittlerwei­le tatverdäch­tigen Bewohnerin ausgebroch­en. Bei dem Brand starben drei Menschen, insgesamt zwölf wurden verletzt.
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FOTO: KOHLS/SDMG/DPA Feuerwehrl­eute stehen neben Tragen für Verletzte während der Brandnacht in der Pflegeeinr­ichtung.
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FOTO: FRANK PIETH Landesgesu­ndheitsmin­ister Manne Lucha (Grüne) legt am Unglücksor­t Blumen nieder.

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