Auf den Schock folgen Trauer und Entsetzen
Mordermittlungen gegen Mitbewohnerin nach Brand in Reutlinger Pflegeheim mit drei Toten – Sozialminister Lucha vor Ort
- Was die Reutlinger Polizei am Mittwoch um 14.28 Uhr mitteilt, rückt den schon tragischen Abend in ein noch dramatischeres Licht. Bei einem Brand in einem sozialpsychiatrischen Fachpflegeheim der GP.rt in der Oberlinstraße sind am Dienstagabend drei Menschen gestorben: eine 53-jährige Frau sowie zwei 73 und 88 Jahre alte Männer. Nun steht ein schlimmer Verdacht im Raum: Eine 57-Jährige, die ebenfalls in der betroffenen Wohngruppe gelebt hat, soll das Feuer absichtlich gelegt haben. Gegen sie wird wegen des Verdachts auf dreifachen Mord und elffachen Mordversuch ermittelt.
Diese neuen Erkenntnisse der Polizei dürften Geschäftsführer Professor Gerhard Längle und sein Team schwer treffen. Kommentieren darf Längle sie wegen der Schweigepflicht aber nicht. Das Medienecho auf den Brand ist schon am Mittwochmorgen, noch bevor von Mord die Rede ist, übermächtig. Kameramänner und Reporter aus nah und fern sind nach Reutlingen gekommen, laufen über das winterlich-idyllische Gaisbühl-Gelände. Kaum etwas weist noch auf die dramatischen Szenen hin, die sich einige Stunden zuvor hier abgespielt haben.
Ein Zugang zum betroffenen Gebäude ist noch mit Polizeiabsperrband abgesperrt. Je näher man dem Brandort kommt, desto stärker riecht es noch immer nach Rauch. Bewohner sind keine zu sehen. Pfleger weisen Journalisten freundlich-bestimmt darauf hin, dass sie dem Gebäude nicht zu nahe kommen und hinter einem Zaun warten sollen. Ein blauer Minibus fährt aufs Gelände, in weiße Anzüge gehüllte Mitglieder der Spurensicherung steigen aus.
Geschäftsführer Längle und Ronald Hensel, der fachliche Betriebsleiter der Einrichtung, geben am laufenden Band Interviews. Beide wirken extrem müde, ringen sichtlich um Fassung. „Wir bemühen uns um Normalität, eine ruhige Atmosphäre für alle Bewohner“, sagt Längle mit leiser Stimme. „Wir haben auch mehr Mitarbeiter im Dienst als sonst, Seelsorger sind ebenfalls hier“, ergänzt Hensel. Priorität habe nun die Betreuung der anderen Bewohner und auch der Mitarbeiter. Im Fachpflegeheim sind 38 Menschen untergebracht, die psychisch krank sind. Die Menschen leben in Wohngruppen. In einer Gruppe mit sieben Bewohnern brach das verheerende
Feuer aus. Vom Auslösen der Brandmeldeanlage bis zum Eindringen des ersten Feuerwehrtrupps in die Wohnung vergingen zwölf bis 15 Minuten, berichtet Einsatzleiter Martin Reicherter.
Die Feuerwehrleute fanden drei tote Bewohner vor – löschen mussten sie aber kaum noch. „Uns alle hat wirklich erstaunt, welche Hitze dort geherrscht haben muss und wie schnell der Brand vorangeschritten ist“, erzählt Reicherter. Telefonapparate seien geschmolzen, im Bewohnerzimmer, in dem der Brand ausbrach, habe man nur noch die verkohlten Reste des Lattenrostes gefunden.
Es ist das Zimmer der Frau, die nun unter dringendem Mordverdacht steht.
Zugang zu den Räumen bekommen Journalisten an diesem Mittwoch nicht. Feuerwehreinsatzleiter Reicherter kann aber berichten: Die Wohngruppe habe ein offenes Wohnzimmer in der Mitte, die Bewohnerzimmer seien drum herum angeordnet. Nur eins von vielen tragischen Elementen: Das Zimmer, in dem der Brand ausbrach, liegt direkt an der Wohnungstüre. Die immense Brand- und Hitzeentwicklung habe den anderen Bewohnern eine Flucht nahezu unmöglich gemacht.
Sieben Menschen waren zum Brandzeitpunkt in der Wohnung. Zwei von ihnen waren in ihren geschlossenen Zimmern – sie überlebten unverletzt. Was zum nächsten tragischen Aspekt führt. Die Zimmertüren sind rauchdicht, berichtet Einsatzleiter Reicherter. Wäre der Brand später ausgebrochen und wären die anderen Bewohner auch auf ihren Zimmern gewesen, hätten sie vielleicht eine Chance gehabt.
Noch am Brandabend berichteten die Einsatzkräfte, dass ihnen beim Eintreffen am Brandort „eine Person mit rußgeschwärztem Gesicht“entgegenkam. Das war die Bewohnerin
des Brandzimmers, also jene Frau, die nun unter Mordverdacht steht. Sie liegt schwer verletzt in einer Klinik, ist jedoch außer Lebensgefahr.
Die Feuerwehr stand am Dienstagabend zunächst vor einer geschlossenen Türe, hatte nicht direkt Zutritt zur Wohngruppe, berichtet Reicherter. Die Türe habe einen Knauf gehabt. Sein Fahrzeugführer habe geistesgegenwärtig reagiert und eine Betreuerin nach dem Schlüssel gefragt. Alternativ hätten die Einsatzkräfte den richtigen Schlüssel an einem extra für die Feuerwehr bereitgestellten Bund mit rund 20 Schlüsseln finden müssen.
Das hätte deutlich mehr Zeit gekostet. „Eine solche Türe können wir nicht einschlagen“, sagt Reicherter. „Die ist darauf ausgelegt, 30 Minuten Brand standzuhalten.“Auch im Wohnbereich waren einzelne Zimmer abgeschlossen, da es sich ja um Privaträume handelt. Die Menschen waren nicht eingeschlossen – ein Gerücht, das am Mittwoch in Reutlingen die Runde machte.
Am Mittag nach dem Brand ist auf dem Gaisbühl oft die Rede von Schuld und Trauer. Eugen Brysch, der Vorstand der Stiftung Patientenschutz, hat infolge des Brands die Sicherheitsstandards in Pflegeeinrichtungen kritisiert. Er fordert Sprinkleranlagen in diesen. Landesgesundheitsminister Manne Lucha (Grüne), der angereist ist, um sein Beileid auszudrücken und Blumen niederzulegen, reagiert darauf voller Unverständnis: „Ich hätte mir gewünscht, dass Herr Brysch erst seine Trauer zum Ausdruck bringt. Außerdem: Wer von uns hat daheim eine Sprinkleranlage über dem Bett?“
In der betroffenen Wohngruppe selbst haben keine gehbehinderten Menschen gelebt, betont Einrichtungsleiter Längle. Generell sind die Bewohner des Fachpflegeheims neben ihrer psychischen Erkrankung aber auch auf Pflege angewiesen. Die meisten sind älter als 50 Jahre.
Man habe alle geltenden Brandschutzvorschriften eingehalten, so Längle weiter. In der Wohngruppe hätten kurzzeitig schätzungsweise 300 Grad geherrscht, sagt Einsatzleiter Reicherter. Und: „Niemand ist verbrannt.“Rauchgas und Giftstoffe, die beispielsweise freigesetzt werden, wenn Matratzen brennen, seien wohl tödlich gewesen. Für die Feuerwehrleute jedenfalls war der Einsatz immens belastend. Einige mussten danach psychologisch nachbetreut werden. Feuerwehrarzt Markus Böbel habe schon in der Nacht versucht, ihnen jeden Anflug von Schuldgefühlen zu nehmen, so Reicherter. Auf dem Gaisbühl will man so schnell wie möglich wieder zur Normalität zurückkehren. Die Bewohner der benachbarten Wohngruppe waren nach dem Brand evakuiert worden. Sie können ihre Zimmer bald wieder beziehen, so Längle.
Die kriminalpolizeilichen Ermittlungen und Untersuchungen dauern indes an. Die Staatsanwaltschaft Tübingen prüft, ob bei der 57-jährigen Beschuldigten „die Voraussetzungen für eine einstweilige Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus vorliegen“.