Alt und abgestempelt
Ältere Menschen werden von überraschend großen Teilen der Gesellschaft negativ wahrgenommen. Sie seien rückständig, blockierten den Fortschritt und sollten gefälligst Jüngeren Platz machen. Gegen solche Vorurteile und Altersdiskriminierung rührt sich jedo
- Als Inge Mock Mitte 50 war, erfuhr sie von ihrem Arbeitgeber, dass es nun an der Zeit sei, in den Ruhestand zu gehen. „Man bot mir Altersteilzeit an und das habe ich, wie viele andere auch, angenommen.“Der allmähliche Rückzug aus dem Berufsleben kam der gelernten Arzthelferin gelegen, weil erst ihre Mutter an Demenz erkrankte und sich ihr Vater später einen Lendenwirbel brach. Also ist sie zwischen Biberach und ihrem Elternhaus in Laichingen gependelt, ein mühsamer, aber notwendiger Aufwand, weil auf der Schwäbischen Alb nur schwer Hilfe zu bekommen war. Durch die Betreuung der Eltern lernte sie kennen, wie sich der Lebensabend entwickeln kann. „Über mein eigenes Alter habe ich mir damals aber keine Gedanken gemacht“, sagt die heute 76-Jährige, „da hatte ich gar keine Zeit zu.“In ihren Papieren allerdings, auf den Ämtern und in der Öffentlichkeit war ihr Status nun festgeschrieben: Rentnerin.
Deutschland und das Alter, das ist eine komplizierte und oft widersprüchliche Beziehung. Schon lange werden Rufe laut nach einem höheren Rentenalter – und lösen reflexartig Empörung und Widerstand aus. Nur langsam macht sich die Erkenntnis breit, dass sich Arbeitskräftemangel und Wohlstandsverlust nicht allein über Geburten und Zuwanderung bewältigen lassen. Das größte Hindernis zu einer Kurskorrektur ist womöglich aber das Bild der Gesellschaft von alten Menschen.
Das legt zumindest ein Bericht der Weltgesundheitsorganisation nahe, wonach jeder zweite Erwachsene Vorurteile und negative Einstellungen gegenüber älteren Menschen hat. Zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommt in Deutschland eine Studie der Antidiskriminierungsstelle. So nimmt rund ein Drittel der Befragten Ältere als Blockierer wahr und fordert, sie sollten berufliche und gesellschaftliche Rollen aufgeben, um Platz zu machen für Jüngere. Mehr als die Hälfte ist der Meinung, Alte würden nichts zum gesellschaftlichen Fortschritt beitragen. Zwei von drei Befragten halten sie für eingeschränkt, einsam und unflexibel. Die Bundesbeauftragte Ferda Ataman nennt die Zahlen drastisch, „ich bin erschrocken darüber, dass ein signifikanter Teil der Gesellschaft offenbar denkt, ältere Menschen hätten zu viel Macht und seien rückschrittlich“. Die Ergebnisse zeigten, „dass Klischees und Stereotype über ältere Menschen fest verwurzelt sind“.
Schablonen und Rollenbilder, denen Inge Mock genauso wenig entspricht wie die anderen Senioren, die an diesem Morgen in die Biberacher Begegnungsstätte Ochsenhausener Hof gekommen sind, darunter auch Hanne Keim. „Die Studienergebnisse überraschen mich“, sagt die 81Jährige, die einst als Kauffrau im Export arbeitete und später in die Bäckerei ihres Mannes einstieg. Erst im Alter von 75 Jahren zog sie sich aus Backstube und Verkauf zurück, hat drei erwachsene Kinder und sieben Enkelkinder und engagiert sich ehrenamtlich für viele Belange. „Wie jemand sein Leben gestaltet, hängt nicht vom Alter ab“, ist sie überzeugt, „sondern von der Person.“Zumal die Ansichten, ab wann jemand alt ist, weit auseinandergehen.
Für manche fängt das Alter schon ab 40, 50 an, für andere ab 70, im Durchschnitt ergibt sich ein Wert von 61. Erschreckend früh, auch im internationalen Vergleich, in den Niederlanden etwa wird man erst ab 71 Jahren als alter Mensch wahrgenommen. Prägend für unsere Vorstellung vom Alter ist auch dessen einseitige Darstellung. So fiel Inge Mock kürzlich das Programmheft einer Seniorengruppe auf, mit einem Foto auf dem Titelblatt, das ergraute Menschen in beigen Jacken zeigt, die auf einer Parkbank sitzen und regungslos in die Luft starren. „Das ist ein verkehrtes Bild der Alten“, kritisiert die 76-Jährige. Eines, das aber auch von den Medien transportiert wird, wenn bei Renten- und Seniorenthemen zuverlässig Rollatoren, faltige Hände und gekrümmte Rücken zu sehen sind, gemäß: Klischee erfüllt.
Gefördert wird das Schubladendenken durch eine abwertende Sprache, wenn in der Öffentlichkeit die Rede ist von „Überalterung“und „Pflegelast“, von „demografischer Zeitbombe“und „Restlebenserwartung“. Augenfällig und bedrückend während der Pandemie, als Ältere plötzlich „vulnerabel“waren, identifiziert als gesichtslose „Risikogruppe“. Für Eva-Maria Kessler, Gerontopsychologin und Leiterin der besagten Studie, steht fest, dass ein derart einseitiger Blick zu einer „Beurteilung alter Menschen als schwache, zu beschützende und gleichzeitig kostenintensive Bevölkerungsgruppe“führt.
Doch woher rührt diese Einstellung zum Alter, die offenbar tief verwurzelt ist? „Eine wesentliche Quelle ist sicher unsere Angst vor dem Tod“, sagt Kessler. „Ältere Menschen erinnern uns immer auch daran, dass wir endlich sind und unser Körper fragil ist.“Abwertung und Verdrängung erleichtern den Umgang mit dieser Urangst. Dazu kommt eine Gesellschaft,
die Jugendlichkeit via Werbung und Konsum überhöht und sich vor allem über Produktivität und Leistungsfähigkeit definiert. Oder wie es die Schriftstellerin Sybille Berg in einer
Kolumne für „Spiegel-Online“formuliert: „In unserem System hat nur Wert, wer Leistungen bringen, sich vermehren und aktiv sein kann.“Aber stimmt diese Diagnose so zugespitzt?
„Das ist auf jeden Fall so, leider“, sagt Ria Hanken aus Freiburg, die frühere IT-Unternehmerin leitet die Initiative „Alterskompetenz“. Für die 70-Jährige wird der Ageismus, so der Fachbegriff für Altersdiskriminierung, von Generation zu Generation weitergegeben und immerzu genährt. „Man denke nur an die Zeiten mit Arbeitslosigkeit. Die Älteren wurden plötzlich nach Hause geschickt, weil sie den Jungen die Arbeitsplätze wegnehmen würden. Den Unternehmen war das ganz recht, weil die Jungen billiger waren.“Erfahrung zählte plötzlich nichts mehr, alles sollte dem Zeitgeist entsprechen. Jetzt allerdings fehlen Arbeitskräfte auf allen Ebenen. „Die Alten sind wieder gefragt. Doch so einfach lassen sich die Dinge von heute auf morgen nicht ändern.“
Weil das verbreitete Bild vom Alter als normal angesehen und oft nicht hinterfragt wird – auch nicht von den Betroffenen, meint Hanken. „Das ist das große Problem. Dass auch viele Ältere sich und ihre Altersgenossen negativ sehen. Bei ihnen herrscht das gleiche Altersbild vor wie bei den Jüngeren.“Deshalb kleiden sich viele lieber „altersgerecht“und unauffällig, ziehen sich gerne zurück und wollen vor allem niemandem Mühe bereiten. Und das sogar bis über den Tod hinaus, belegt durch die Zunahme an Urnengräbern und anonymen Bestattungen, wie Dieter Eckhardt, Vorsitzender des Stadtseniorenrates Biberach, bedauert. „Geht es um Patientenverfügungen, Vollmachten und die gewünschte Grabform, sagen ganz viele: ,Ich möchte niemandem zur Last fallen’. Das gab es früher nicht.“
Der 69-Jährige würde sich wünschen, dass die Älteren schon zu Lebzeiten sichtbarer und selbstbewusster auftreten, sich aktiv ins Geschehen einbringen. „Wenn ich sehe, was eine Stadt wie Biberach alles für Senioren anbietet und wie wenig davon angenommen wird, dann bin ich manchmal ganz verzweifelt“, sagt er. „In den Debatten geht es immer um Teilhabe. Tatsächlich geht es oft aber um Teilnahme.“
Um einer verinnerlichten Eigenwahrnehmung auf der einen und einem überholten Altersbild auf der anderen Seite entgegenzuwirken, empfiehlt Gerontopsychologin Kessler den Blick gezielt auf die Stärken dieser Lebensphase zu richten, ohne Probleme und Schwächen zu unterschlagen. „Jüngere Menschen brauchen dazu Kontakte zu alten und sehr alten Menschen, auch jenseits der eigenen Familie.“Allein schon um sich ihren verdrängten Ängsten und Befürchtungen über ihr späteres Dasein zu stellen.
Für mehr Schnittstellen zwischen Jung und Alt plädiert auch Ria Hanken, die sich in dem bundesweiten Projekt „Generationen im Gespräch“engagiert. Umdenken müssten aber auch viele Unternehmen, die noch nie an generationsübergreifendes Lernen gedacht hätten oder an spezielle Schulungen für Ältere bei Softwareprogrammen oder neuen Aufgabengebieten. „Da wurden ganz viele Fehler gemacht.“Und wer aus seinem Unternehmen ausscheidet, könne offen sein für eine andere Tätigkeit, als Berater weiterarbeiten oder sich auch selbstständig machen. „Es muss nicht immer das Ehrenamt sein. Nicht das, was die Gesellschaft erwartet, sondern was einem Spaß macht.“
Ziel kann es dabei allerdings nicht sein, dass die Älteren den Jungen in allem nacheifern müssen, sagt der frühere Notar Edmund Wiest beim Treffen im Ochsenhausener Hof. „Es ist das Vorrecht der Jugend, dass sie neue Wege geht.“Ob Hände festkleben auf Asphalt als Protest gegen den Klimawandel dabei der richtige Weg ist, sei dahingestellt. „Über das Ziel hinauszuschießen, gehört aber nun mal auch dazu. Und wenn wir Alten schon als Bremser gesehen werden, dann können wird das ja an dieser Stelle sein.“
Dass die Alten die Jungen beim Klimawandel im Stich lassen (in der Studie sind immerhin 40 Prozent der Meinung), gehört aber wohl in die Kategorie Vorurteil. „Ältere können sich besser einschränken, das mussten wir früh lernen“, sagt Inge Mock, die, um Energie zu sparen, ihre Wohnung derzeit nicht wärmer als 18 Grad heizt. „Und seit mein Mann gestorben ist, ernähre ich mich vegetarisch.“Agil und engagiert ist die 76-Jährige ohnehin wie immer, hat einen Treffpunkt gegen Einsamkeit gegründet und die Krankenhauslotsen ins Leben gerufen, die überforderte Patienten bei einem Klinikaufenthalt begleiten und unterstützen. „Es gibt Alte, die niemanden haben, denen es an Kontakten fehlt. Die sich schwertun und einfach hilflos sind.“
Denn auch das kann Teil des Alters sein, Menschen, die tatsächlich gebrechlich, schwach und krank sind. Die im herkömmlichen Sinne nichts mehr leisten können. Und die trotzdem die gleiche Wertschätzung verdienen wie jeder andere auch. „Das ist ganz, ganz wichtig“, sagt Mock, die weiß: Das Alter ist keine graue Masse oder Einbahnstraße, sondern so einfach und schwierig, so vielseitig und unvergleichlich, wie jede andere Lebensphase auch. Schwer zu verstehen ist das eigentlich nicht, nun muss es nur noch in die Köpfe.