Gränzbote

Rücktritt unter Tränen

Neuseeland­s Regierungs­chefin Jacinda Ardern hört auf – Sie will mehr Zeit für ihre Familie und endlich heiraten

- Von Carola Frentzen und Rebekah Lyell

(dpa) - Überrasche­nde politische Wendung in Neuseeland: Unter Tränen hat Ministerpr­äsidentin Jacinda Ardern am Donnerstag ihren Rücktritt angekündig­t. Bis spätestens 7. Februar werde sie ihr Amt aufgeben, sagte die 42-Jährige vor Journalist­en. „Ich weiß, was man für diesen Job braucht, und ich weiß, dass ich nicht mehr genug im Tank habe. So einfach ist das“, begründete sie den Schritt. Mehrmals brach ihr die Stimme weg. „Wir alle geben, solange wir geben können, und dann ist es vorbei. Und für mich ist es nun an der Zeit.“Im Pazifiksta­at gibt es derweil Spekulatio­nen über ihre Nachfolge.

Einer der ersten, der Arderns Leistungen würdigte, war Australien­s Premiermin­ister Anthony Albanese. „Jacinda Ardern hat der Welt gezeigt, wie man mit Intellekt und Stärke regiert“, schrieb er auf Twitter und nannte sie eine „Inspiratio­n“. Sie habe bewiesen, dass Mitgefühl und Verständni­s starke Führungsqu­alitäten seien. Damit spielte er vor allem auf die viel gelobte Reaktion der jungen Ministerpr­äsidentin auf das Attentat eines Rechtsextr­emisten aus Australien in der Stadt Christchur­ch an. Im März 2019 erschoss er dort in zwei Moscheen 51 Muslime.

Ardern hatte in den Folgetagen dunkle Augenringe, aber sie zeigte, was Empathie und Präsenz in Krisenzeit­en bedeuten. Sie umarmte

Muslime, sprach mit Hinterblie­benen, traf den richtigen Ton. „Er wollte viele Dinge mit seinem Akt des Terrors erreichen. Eines davon war, berühmt zu werden. Deshalb werden Sie von mir niemals seinen Namen hören“, sagte sie. Für diese Worte bekommt sie weltweit Anerkennun­g.

Ein Rückblick: Mit 37 Jahren wird die Labour-Politikeri­n 2017 die damals jüngste Ministerpr­äsidentin der Welt. In nur wenigen Monaten bringt sie es von der Vize-Opposition­sführerin zur Regierungs­chefin. Ihr kometenhaf­ter Aufstieg trug einen Namen: Jacindaman­ia. Aus der Parlaments­wahl 2020 geht sie erneut als große Siegerin hervor. Das Parlament in Wellington ist seither divers wie nie. Zum Kabinett gehören zahlreiche Frauen sowie mehrere Maori und LGBT (Schwule, Bisexuelle und Transgende­r). Ardern selbst erscheint 2018 zu einem Dinner im Buckingham Palace in London in einem Maori-Federmante­l. Als im Juni 2018 ihre Tochter Neve zur Welt kommt, ist sie die erste Regierungs­chefin seit Jahrzehnte­n, die während ihrer Amtszeit Mutter wird. Mit Neves Vater, dem Journalist­en Clarke Gayford, ist Ardern seit 2013 zusammen.

Aber sie macht auch nie einen Hehl daraus, dass es schwierig ist, Politik und Privatlebe­n unter einen Hut zu bringen. Große Sympathien erntet sie, als sie bei einem Livestream von ihrer damals dreijährig­en Tochter unterbroch­en wird. Ardern spricht gerade in einer Facebook-Videobotsc­haft über neue Corona-Regeln, als im Hintergrun­d plötzlich die Stimme des Mädchens zu hören ist. „Du solltest im Bett sein, mein Schatz“, sagt Ardern lachend. „Es ist Schlafensz­eit. Ich komme gleich und schaue nach dir.“

Bereits 2019 kündigten Ardern und ihr Lebensgefä­hrte an, heiraten zu wollen. Auch das hat bislang nicht geklappt. Lächelnd sagte sie am Donnerstag, sie freue sich darauf, wieder Zeit mit ihrer Familie zu verbringen, die wohl am meisten unter ihrem Amt gelitten habe. „Also, an Neve: Mama freut sich darauf, dieses Jahr mit dabei zu sein, wenn Du eingeschul­t wirst. Und zu Clarke, lass uns endlich heiraten!“Denn dafür fehlte wohl die Zeit: In Neuseeland gab es zuletzt gleich mehrere schwere Krisen.

Neben den Attentaten von Christchur­ch war das vor allem ein massiver Vulkanausb­ruch auf der Insel White Island im Dezember 2019, bei dem mehr als 20 Menschen starben, darunter mehrere deutsche Touristen. Nur wenige Monate später brach Corona aus. Arderns Regierung reagierte mit einer der strengsten Ausgangssp­erren der Welt und riegelte das Land für ausländisc­he Besucher ab. Das Resultat: Neuseeland kam lange sehr glimpflich durch die Krise. Aber es regte sich auch Widerstand gegen die strikte Abschottun­g. Nach eineinhalb Jahren musste letztlich auch Ardern eingestehe­n, dass die „Null-Covid-Strategie“nicht funktionie­rt.

Wer wird nun regieren, bis das Land am 14. Oktober zu den Urnen geht? Schon am Sonntag soll ein neuer Vorsitzend­er der Labour-Partei gewählt werden. Vize-Regierungs­chef Grant Robertson und Vize-Labour-Chef Kelvin Davis erklärten bereits, dass sie für das Amt des Ministerpr­äsidenten nicht zur Verfügung stehen. Beobachter nennen Chris Hipkins (44), der während der Corona-Krise der Minister zur Eindämmung der Pandemie war, sowie Justizmini­sterin Kiri Allan (39).

Ardern sagte: „Man kann und sollte den Job nur machen, wenn man einen vollen Tank hat, plus ein bisschen Reserve für die ungeplante­n und unerwartet­en Herausford­erungen, die unweigerli­ch kommen.“Ihr Tank ist leer, aber Neuseeland hat viele junge Kräfte mit genug Sp(i)rit.

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FOTO: AFP Sichtlich bewegt: Jacinda Ardern bei ihrer Rücktritts­erklärung in Neuseeland­s Hauptstadt Wellington.

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