Ab ins Gelände!
In den Kühtaier Bergen können auch Anfänger ihre Skitourenträume wahr werden lassen
Gelenkig sollte man schon sein. Schließlich gilt es, auf steilem Grund stehend und unfallfrei die Richtung zu wechseln. Also: Beide Skier geradeaus, dann den Bergski gegen die Laufrichtung umheben, die Stöcke tief in den Schnee rammen, das Gewicht verlagern und den zweiten Ski in einem Schwung nachziehen. Theoretisch ist das klar, aber jetzt stehe ich unschlüssig auf etwa 2200 Metern Höhe im Tiefschnee. Vergangene Nacht hat es ununterbrochen geschneit. Knapp 200 Meter Aufstieg bis zur Schafzollspitze liegen noch steil über uns. Guide Artur Lorenz steht einige Meter oberhalb von mir im Hang. Schritt für Schritt erklärt er das Manöver „Spitzkehre“, das hier für eine Pfadänderung Richtung Gipfel nötig ist. „Alles andere führt zum gefährlichen Abrutschen“, sagt Artur. Ein Sturz bei der Spitzkehre aber auch, denke ich mir.
„Das Skitourengehen ist im Grunde eine eigene Sportart“, hatte Artur mir am Tag zuvor erklärt, als wir zur Probe den Hang neben der Kaiserbahn in Kühtai auf Skiern hochgelaufen und im freien Gelände hinuntergewedelt sind. Skitourengeher sind quasi die Entschleuniger dieses Wintersports. Denn das Besteigen von Almen und Gipfeln auf Skiern und das anschließende Abfahren im Tiefschnee hat mit dem üblichen Skizirkus nichts zu tun. Man ist viel langsamer unterwegs, hat Zeit, die Natur auf sich wirken zu lassen.
Skitourengehen boomt – und ein Ende ist nicht abzusehen. Seit der Corona-Pandemie, als die meisten Lifte stillstanden, liegt die Zuwachsrate nach Angaben des Deutschen Alpenvereins jährlich bei rund zehn Prozent. Manche steigen Skipisten hinauf, aus Angst vor Lawinen oder weil sie das Tourengehen als Fitnesstraining betreiben. Viele aber suchen die Naturnähe, die Stille weit weg von Liften und Schirmbars. Der Mythos für sie ist die Haute Route: auf Skiern von Hütte zu Hütte wandern.
Man muss kein Tourenprofi sein, um sich diesen Traum zu erfüllen. Es geht auch eine Nummer kleiner, ohne Viertausender und Gletscherspalten. In den Kühtaier Bergen gibt es viele Wiesenhänge mit wenig Steinen. Und die hohe Lage auf über 2000 Metern sorgt den ganzen Winter über für ausreichend Schnee. „Ein perfektes Gebiet für Einsteiger“,
erklärt Artur. Aber nicht nur. „Es gibt hier alles“, sagt der 35-Jährige mit dem lockigen Haar. „Von leichten Touren und kaum Lawinengefahr bis zu anspruchsvollen Strecken mit Kletterpassagen.“Welche Art er selbst bevorzugt, ist klar. Lorenz hat kräftige Hände und den sehnigen Körper eines Ausdauersportlers.
Einfach die Skischuhe in die Skibindung einrasten lassen, wie beim klassischen Skifahren, das funktioniert beim Skibergsteigen nicht. Dafür braucht man spezielle Kenntnisse sowie eine entsprechende Ausrüstung. Und das ist einiges. Der staatlich geprüfte Bergführer hat eine Ausrüstung im Rucksack, als ob er eine Expedition starten würde: einen Peilstab für das Messen der Schneehöhe und für das Auffinden von Verschütteten nach einem eventuellen Lawinenabgang, dazu eine Schaufel, Geländekarten und einen elektronischen Piepser, ebenfalls zur Personenortung. Diese Ausrüstung ist für jeden Tourengänger ein Muss. Arturs Rucksack hat zudem einen per Handzug auslösbaren Airbag – bei
einem Sturz in einer Lawine soll der Ballon den Sportler an der Oberfläche halten. Und schließlich sind da noch die Kunststofffelle, die unter die Skier gespannt werden und den Aufstieg überhaupt erst möglich machen. „Sie sind der Tierwelt nachempfunden“, sagt Artur, „früher nahm man noch Seehundfelle.“
Die Grundtechnik des Aufstiegs habe ich schnell drauf. Bei den Schritten dürfen die Füße nicht angehoben werden, es ist eher ein Schlurfen nach vorn wie beim Langlaufen. Wie in jedem Ausdauersport kommt es darauf an, einen Rhythmus zu finden. Also nicht Vollgas und dann Verschnaufpause, sondern langsam und gleichmäßig gehen, sodass man auch die tief verschneiten Fichten am Rande der Strecke bewundern kann.
Bei einer Trinkpause gräbt Guide Artur einen Schneeblock aus und erklärt mir die Schichten, die sich in ihrer Struktur unterscheiden können. Die zu kennen ist wichtig, um die Lawinengefahr einschätzen zu können, auch wenn es für die Gebiete täglich
aktualisierte Warnhinweise gibt. Kurz gesagt: Wenn eine Schicht mal angetaut war und dann wieder Frost kommt, bilden sich kleine Eiskugeln, die ein Abrutschen ganzer Hänge auslösen können. „Leider gehen viele los, ohne sich ausreichend kundig zu machen“, sagt der Fachmann. Rund 300 Urlauber sterben jedes Jahr allein in den österreichischen Alpen – darunter viele, die von Lawinen verschüttet werden. Artur Lorenz empfiehlt deshalb: „Wer sich nicht wirklich gut auskennt, sollte sich für eine Skitour lieber einen ortskundigen Bergführer nehmen.“Oft kann man sich auch geführten Gruppen anschließen. Viel schöner und ruhiger ist es natürlich zu zweit.
Auf unserer Skitour zum Schafzoll hat Artur gleichmäßig ansteigend die Spur gezogen. Auf den letzten Höhenmetern vor dem Gipfel ist es damit allerdings vorbei. Spitzkehre um Spitzkehre arbeiten wir uns am Rand eines Steilhanges hinauf. Nach zweieinhalb Stunden stehen wir endlich auf dem 2394 Meter hohen Berg. Den Blick fesseln die Alpengipfel
ringsum. Der Acherkogel spitzt aus dem Morgennebel. Artur deutet auf eine steile Scharte. Dort will er runter.
Also ziehen wir die Felle von den Skiern, stellen Schuhe und Bindungen in den Abfahrtmodus. Als Erster wedelt der Guide talwärts. Wie müheloses Hoppeln sieht das bei ihm aus. Unten angekommen, winkt er mir mit dem Skistock. Ein bisschen mulmig ist mir schon. Doch ich überwinde meine Angst und bin erstaunt, wie gut ich im wadentiefen Schnee zurechtkomme. Auf halber Höhe ziehen wir nochmals die Felle auf und steigen ein Stück durch einen Märchenwald nach oben. Über sanft abfallende Hänge schwingen wir schließlich federleicht hinab ins Tal.
Weitere Infos finden sich unter www.kuehtai.info. Geführte Skitouren bietet vor Ort die Bergsportschule Follow me an (www.follow-me.at).
Die Recherche wurde unterstützt von Innsbruck Tourismus.