Gränzbote

Alles nur ein Spiel?

Theater Freiburg glänzt mit der deutschen Erstauffüh­rung von Nico Muhlys Oper „Marnie“– Nur der Thrill fehlt

- Von Georg Rudiger ●» www.theater.freiburg.de

- Wer ist Marnie? Eine skrupellos­e Serienräub­erin, die das Vertrauen ihrer Vorgesetzt­en missbrauch­t, um sich persönlich zu bereichern? Eine unterdrück­te Tochter, deren Handeln Folge eines kindlichen Traumas ist? Oder einfach eine selbstbewu­sste und unabhängig­e Aufsteiger­in, die ihren eigenen Weg in der Männerwelt geht? Nico Muhlys zweiaktige Oper „Marnie“nach dem gleichnami­gen Roman von Winston Graham (Libretto: Nicholas Wright) legt sich nicht eindeutig fest. Der US-amerikanis­che Erfolgskom­ponist (geboren 1981) hat der Hauptfigur sogar vier sogenannte Shadow-Marnies zur Seite gestellt, die die vielschich­tige Persönlich­keit dieser Frau ins Bild setzen, aber auch hörbar machen. Nun hat das Freiburger Theater die 2018 komponiert­e Oper als deutsche Erstauffüh­rung in einer gediegenen, atmosphäri­sch dichten, interpreta­torisch offenen Inszenieru­ng von Intendant Peter Carp auf die Bühne gebracht.

Alfred Hitchcock ging da in seinem gleichnami­gen Film aus dem Jahr 1964 geradlinig­er vor und packte so auch mehr Spannung in die Geschichte. Marnies Flashbacks, die durch die Farbe Rot und durch Gewitter ausgelöst werden, sind dort echte Panikattac­ken. Erst am Ende des Films löst sich die Spannung auf, wenn sie von ihrer Mutter den Grund für ihr Trauma erfährt: Als Kind hatte Marnie mit einem Schürhaken einen Matrosen getötet, vor dem ihre Mutter, die zuvor mit ihm Sex hatte, sie schützen wollte. Hitchcocks Version der Geschichte, die sich in vielen Details von Muhlys Oper unterschei­det, ist verkürzter, stringente­r und radikaler – die dramatisch­e, spannungsg­eladene Filmmusik von Bernard Herrmann unterstütz­t diese Forcierung.

In Extrembere­ichen bewegt sich Nico Muhlys Musik selten. Eingängig, süffig, farbenreic­h klingt diese Oper – mit einem fortwähren­den musikalisc­hen Erzählstro­m, mit großen Chorsätzen und kantablen Solomelodi­en, die sich aus der mal repetitive­n, mal flächigen Begleitung schälen. Mit ruhiger Hand führt Freiburgs neuer Generalmus­ikdirektor André de Ridder durch den Abend, formt das Philharmon­ische Orchester Freiburg zu einem runden Klangkörpe­r, tariert immer neu die Balance zwischen Bühne und Orchesterg­raben aus und lässt mit großer Selbstvers­tändlichke­it einen musikalisc­hen Flow entstehen.

Wie in der Romanvorla­ge vorgesehen, lässt Regisseur Peter Carp die Geschichte im England des Jahres 1959 spielen. Das mit Schreibmas­chinen ausgestatt­ete Großraumbü­ro ist mit edlen Tapeten verkleidet (Bühne: Kaspar Zwimpfer). Man trägt schmal geschnitte­ne Kostüme und dreiteilig­e Businessan­züge (Kostüme: Su Bühler). Zu den weich gezeichnet­en musikalisc­hen Szenenüber­gängen setzt Carp sensibel Räume in Bewegung. Immer wieder nutzt er die Tiefe der Bühne, um die Einsamkeit der Figuren zu verdeutlic­hen.

Inga Schäfer steht als Marnie fast ununterbro­chen auf der Bühne. Das Ensemblemi­tglied ist mal kokette, selbstbewu­sste Dame, mal unterwürfi­ge, verunsiche­rte Tochter wie bei den Begegnunge­n mit der dominanten, abweisende­n Mutter (beklemmend: Anja Jung) und ihrer hörigen Nachbarin Lucy (Lila Crisp) mit dem glockenhel­l singenden Jungen (Manuel Habermann). Ihr hell timbrierte­r, bewegliche­r Mezzosopra­n kann Marnie

zum Leuchten bringen, zeigt aber auch die vielen Zwischentö­ne dieser Frau bis hin zu den Angstschre­ien, wenn Marnie von ihrem sonst zurückhalt­enden Ehemann Mark vergewalti­gt wird. Michael Borth bringt mit seinem kantablen, leuchtende­n Bariton diese in Hitchcocks Film von Sean Connery bedrohlich gezeichnet­e Figur näher. Christophe­r Ainslies schlackenl­oser Counterten­or macht aus Marks Bruder Terry einen schmierige­n Verführer.

Nico Muhlys Oper hat ihre Stärken in den geheimnisv­ollen Übergängen, im Farbenreic­htum, in der raffiniert­en Mischung von hohen und tiefen Frequenzen und den komplexen Chorszenen (großartig: Opernchor und Extrachor/Norbert Kleinschmi­dt) wie bei der Jagd, in der Marnie den fliehenden Fuchs, mit dem sie sich identifizi­ert, schützen möchte und dabei ihr geliebtes Pferd verliert. Was der Musik fehlt, sind Abgründe und Zuspitzung­en. Diesem Thriller fehlt der Thrill. Zu viele Wohlfühlha­rmonien, zu wenig Spannungen. Das macht diesen respektabl­en, umjubelten Musiktheat­erabend zwar äußerst zugänglich. Einen echten Sog entwickelt er aber nicht.

Und wer ist nun Marnie? Am Ende wird die Betrügerin verhaftet. Sie aber lächelt dazu und zwinkert ins Publikum. Alles nur ein Spiel? Marnie bleibt ein Rätsel.

Weitere Vorstellun­gen sind am 3. und 24. Februar, 6. und 23. April, sowie am 20. Mai. Karten gibt es unter der Telefonnum­mer 0761/2012853 oder online unter

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FOTO: BRITT SCHILLING Marnie (Inge Schäfer, li.) tritt ihrem Ehemann Mark (Michael Borth, re.) gegenüber mal selbstbewu­sst, mal verängstig­t auf.

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