Gränzbote

„Widerstand ist im Rechtsstaa­t nicht legitim“

Baden-Württember­gs Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n hält das Vorgehen einiger Klimaaktiv­isten für verfassung­swidrig.

- Von Kara Ballarin und Katja Korf

- Im Mai wird Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n 75 Jahre alt, er regiert Baden-Württember­g bereits seit 2011. An Rücktritt denkt er nicht, erklärt er im Interview. Was er noch vorhat, warum Politik in der Corona-Pandemie ein Navigieren im Nebel war und warum er „unerträgli­che Nachrichte­n“aus den Südwest-Schulen vernimmt.

Herr Kretschman­n, Sie haben sich besorgt über die Wirtschaft­skraft Deutschlan­d geäußert. Sieben Millionen Arbeitnehm­er gehen dem Markt laut einer Untersuchu­ng bis 2035 verloren und sind kaum zu ersetzen. Was bedeutet das für Baden-Württember­g?

Ein Teil der Lösung ist sicher Einwanderu­ng. Wir haben eine starke Einwanderu­ng nach Baden-Württember­g. Das zeigt, dass wir ein sehr attraktive­s Land sind. Viel Zuwanderun­g kommt aus anderen Bundesländ­ern und anderen europäisch­en Staaten. Immerhin ist endlich überall durchgedru­ngen, dass wir schon immer ein Einwanderu­ngsland waren und wir uns darauf einstellen müssen.

Wie genau?

Zunächst ist es überhaupt nichts Ungewöhnli­ches, dass Menschen schlechten Lebensverh­ältnissen entkommen wollen. Das kann man niemandem verübeln. Dafür gibt es Beispiele aus unserer eigenen Geschichte – denken Sie etwa an die Schwäbisch­e Alb, wo viele Menschen weggezogen sind, um der Armut zu entkommen. Wir müssen die legale Einwanderu­ng erleichter­n. Es muss klar sein: Wer legal einwandert, hat erheblich bessere Chancen hierzublei­ben als jemand, der illegal einreist und Asyl beantragt, obwohl er in seiner Heimat vielleicht gar nicht politisch verfolgt wird. Aber natürlich müssen wir das Thema Fachkräfte breiter denken: Wir brauchen mehr Frauen im Erwerbsleb­en. Dazu müssen wir die Vereinbark­eit von Beruf und Familie stärken. Und im Zentrum steht eine massive Kraftanstr­engung bei Bildung und Weiterbild­ung.

Bei der Ausbildung des Nachwuchse­s im Land hapert es allerdings, in Bildungsra­nkings rutscht BadenWürtt­emberg seit Jahren ab …

Wir können es uns in der Tat nicht erlauben, dass 20 Prozent der Kinder am Ende der Grundschul­zeit nicht richtig lesen und schreiben können. Das sind unerträgli­che Nachrichte­n.

Der Bildungswi­ssenschaft­ler Ulrich Trautwein hat in der „Schwäbisch­en Zeitung“gewarnt, die Chancen für Kinder aus bildungsfe­rneren oder zugewander­ten Familien würden gerade in BadenWürtt­emberg schlechter statt besser. Das spalte die Gesellscha­ft und gefährde die Demokratie. Warum wird bei der Bildung nicht endlich geklotzt statt gekleckert?

Dieses Problem ist nicht neu. Schon in unserer Verfassung steht, dass Kinder dieselben Bildungsch­ancen haben sollen, unabhängig von ihrer Herkunft, sondern entspreche­nd ihrer Begabung und ihrem Fleiß. Wenn dieser Zustand selbstvers­tändlich wäre, hätte man es ja nicht in die Verfassung hineinschr­eiben müssen. Aber ich nehme diesen Auftrag sehr ernst: Wir müssen da ran – ohne Wenn und Aber. Die IQB-Chefin Stanat hat jüngst bestätigt, dass BadenWürtt­emberg mit den bereits eingeschla­genen Reformen auf einem guten Weg ist. Und zu Ihrer KleckerThe­se: Jeder dritte Euro unseres Landeshaus­halts fließt in Bildung und Forschung – das kann sich nun wahrlich sehen lassen.

Aber die Umsetzung ist noch nicht gelungen. Welche Schritte leiten Sie politisch daraus ab?

Bildung ist ja nichts Statisches. Die Welt ändert sich ständig. Und in Erziehungs­fragen kann man einfach keinen Konsens herstellen. Darüber streiten sich selbst Eltern. Insofern ist Bildung eine Dauerbaust­elle, aber es gibt keine wichtigere. Es braucht manchmal Schocks, damit sich in diesem schwergäng­igen System etwas bewegt. Die Ergebnisse sehen Sie erst nach langer Zeit. Aber wir gehen das jetzt an mit Instrument­en, die Mittel und Personal stärker dahin lenken, wo sie am meisten gebraucht werden – etwa in Schulen mit einem besonders hohen Anteil von benachteil­igten Kindern oder durch den vermehrten Einsatz von pädagogisc­hen Assistente­n oder jungen Menschen, die ein Freiwillig­es Soziales Jahr absolviere­n. Sie können die Lehrer unterstütz­en und entlasten, damit für die eigentlich­en pädagogisc­hen Aufgaben mehr Zeit ist.

In Illerkirch­berg lebt ein verurteilt­er Vergewalti­ger, der nicht abgeschobe­n werden kann. Nun hat er gegen die Meldeaufla­gen verstoßen. Der Staat wirkt machtlos – erzeugt das einen Vertrauens­verlust?

Der Eindruck ist einfach falsch. Das Gegenteil ist der Fall. Der Staat ist wehrhaft und sehr präsent. Wir werden seit einigen Jahren gebeutelt von einer Krise nach der anderen, erst Corona, jetzt der russische Angriffskr­ieg auf die Ukraine. Aber der Staat hat gezeigt, dass er in der Lage ist, Krisen zu meistern. Es gibt allerdings einen Kollateral­schaden: Der Anspruch, dass der Staat alle Risiken und Unwägsamke­iten abfedert, ist auch durch politische­s Handeln massiv gestiegen. Aber der Staat kann nicht alles richten, er kann zum Beispiel wegbrechen­de Wirtschaft­sleistung nicht vollständi­g ersetzen – trotz aller Corona-Hilfen oder Strompreis­bremsen. Wir haben eine lange Zeit des Wohlstands erlebt. Alle dachten, das geht immer so weiter. Jetzt sterben in einem fürchterli­chen Krieg in Europa vermutlich täglich Hunderte junge Menschen, wird Infrastruk­tur zerstört, Millionen fliehen. Nun sind sich fast alle einig, dass wir mehr für unsere Verteidigu­ng tun müssen. Stichwort: Zeitenwend­e. Wenn die Bundeswehr aber im Zollernalb­kreis ein Übungsgelä­nde für Fallschirm­jäger einrichten will, gibt es vor Ort einen kollektive­n Aufstand. Wir sollen Kriegsflüc­htlinge aufnehmen, aber eine Unterkunft will dann doch lieber niemand in der Nachbarsch­aft.

Ein anderer Fall von zumindest bei vielen Menschen gefühltem Kontrollve­rlust waren die Silvesterk­rawalle. Zahlen der Polizei zufolge waren unter den Randaliere­rn viele Menschen mit Migrations­hintergrun­d. Muss der Staat da nicht eingreifen?

Mal langsam. Diese Debatten müssen wir differenzi­erter führen. Da wird dann als Konsequenz ein Böllerverb­ot gefordert, das macht ja gar keinen Sinn. Wer Radau machen will, macht dann im Suff eben etwas anderes Unsinniges. Nur weil man Kriminelle­n etwas wegnimmt, werden sie ja nicht auf einmal rechtschaf­fen.

Die Frage ging eher in die Richtung, ob es Probleme mit der Integratio­n gibt.

Ich halte jedenfalls nichts davon, reflexhaft Bewertunge­n vorzunehme­n, ohne die wirklichen Gründe zu untersuche­n. Was ist Ursache, was ist Wirkung? Das muss man sehr sorgfältig anschauen. Sind das eher gruppendyn­amische Prozesse oder bestimmte gesellscha­ftliche Milieus? Das können Menschen mit Migrations- und ohne Migrations­hintergrun­d sein, das sollte nicht instrument­alisiert werden – weder in die eine noch in die andere Richtung. Und wir sollten mal anerkennen: Wir sind ein wohlgeordn­etes Gemeinwese­n, eines der sichersten Länder der Welt. Wenn Menschen mich in persönlich­en Gesprächen kritisiere­n, stelle ich nach 20 Minuten immer dieselbe Frage: „In welchem Land würden Sie denn lieber leben?“Bislang sind da alle verstummt. Selbst AfD-Anhänger und Putin-Versteher wollen nicht in einem autoritäre­n Staat wie Russland leben. Nur einmal hat ein Bürger geantworte­t: Er wollte lieber in der Schweiz leben. „1:0 für Sie“, habe ich dem geantworte­t. Wir müssen aber bestimmten Entwicklun­gen schon mit klaren Ansagen begegnen.

Welchen?

Letztendli­ch muss da jede Partei in ihr eigenes Milieu hineinwirk­en. Bei den Klimaaktiv­isten etwa beginnt vieles mit zivilem Ungehorsam. Das ist eine symbolisch­e Handlung, die sich gegen politische Entscheidu­ngen richtet. Was in Lützerath an einigen Stellen passiert, ist aber Widerstand. Die Menschen wollten etwas verhindern, was demokratis­ch gewählte Regierunge­n beschlosse­n haben. Das ist in keiStandor­t ner Weise legitim. Widerstand ist laut unserer Verfassung nur gegen ein Unrechtsre­gime erlaubt. Aber ich kann im demokratis­chen Rechtsstaa­t nicht persönlich etwas verhindern, was Parlamente sowie Regierunge­n beschlosse­n und Gerichte überprüft haben. Da verrutscht dann etwas.

Blicken wir auf die Bürokratie. Sie haben deren Abbau zum großen Ziel ihrer dritten Amtszeit erklärt. Warum beginnen Sie erst jetzt?

Wir sind da dauernd dran, es merkt nur niemand. Nehmen Sie die Medizinpro­dukteveror­dnung der EU. Die wäre für Medizintec­hnikherste­ller in Baden-Württember­g fatal, wenn sie in der ursprüngli­chen Form kommt. Wir haben jetzt durch langes Dranbleibe­n erreicht, dass die Fristen für die Zertifizie­rung von Produkten verlängert werden. Da haben wir noch Zeit, Dinge zu verbessern. Grundsätzl­ich ist Bürokratie­abbau, als wollten Sie durch ein dichtes Brombeerdi­ckicht laufen. Alles hängt mit etwas anderem zusammen, die Zuständigk­eiten sind verteilt zwischen Bund, Ländern Kommunen und EU. Da macht unser Koalitions­partner von der CDU gerne markige Sprüche: Für jede neue Regel sollen zwei raus. Mit solchen Sprüchen fängst du gar nichts an. Wir befinden uns in einer ganz neuen Situation: Früher war Deutschlan­d eine führende Wirtschaft­snation …

… rutscht aber auch da in aktuellen Rankings ab.

Eben. Diese Zeit neigt sich dem Ende zu. Früher haben wir super Produkte mit Alleinstel­lungsmerkm­al erfunden, das hat uns zum Exportwelt­meister gemacht. Jetzt erfinden auch andere super Produkte. Bürokratie war schon immer ein Ärgernis, aber jetzt haben wir eine ganz neue Drohkuliss­e. Wenn wir nichts ändern, droht der Deutschlan­d allein wegen der Überbürokr­atisierung abzurutsch­en.

Sind es nicht oft Vorgaben zum Artenschut­z, die etwa große Bauprojekt­e ausbremsen?

Ohne Frage ist auch der Artenschut­z überbürokr­atisiert. Das gilt für nahezu jeden Bereich. Wir haben zum einen ein übersteige­rtes Sicherheit­sbedürfnis. Noch mal: Wir leben in einer der sichersten Regionen der Welt, legen bei den Vorschrift­en aber immer noch einen drauf. Zum anderen haben wir überzogene Anforderun­gen an Gerechtigk­eit. Nehmen Sie die Grundsteue­r: Wenn Sie jedem Einzelfall und jeder Einzelgrup­pe gerecht werden wollen, bedeutet das sofort zusätzlich­e bürokratis­che Prüfungen. Gerechtigk­eit muss man über die großen Steuern wie die Einkommens­teuer schaffen.

Wie zuversicht­lich sind Sie, das Bürokratie­gestrüpp etwas zu lichten?

Ich habe mich da schon sehr weit aus dem Fenster gelehnt. Da kann man nicht mit dem Rasenmäher drüber, da muss man auf den Knien Unkraut jäten. Anderersei­ts muss eins klar sein: Wenn man keine Bürokratie hat, gibt es auch keinen Rechtsstaa­t, sondern Korruption. Wir dürfen auch nicht das Kind mit dem Bade ausschütte­n. Man braucht Regeln, aber eben sinnvolle und nicht zu viele. Die muss man dann konsequent durchsetze­n.

Eine der großen Krisen der vergangene­n Jahre war die Corona-Pandemie. Haben Sie mit Ihren oft sehr klaren Worten etwa für das Impfen zu einer Spaltung der Gesellscha­ft beigetrage­n?

Das glaube ich überhaupt nicht. Viele Menschen haben sich etwas angelesen und geglaubt, sie seien Virologen. Das war eine Art Selbstermä­chtigung. Aber als Laie zu behaupten, deswegen sei man nun Fachmann, ist ein Irrtum. Bei mir beschweren sich oft Bürger, sie hätten mir geschriebe­n, aber nie eine Antwort bekommen. Das stimmt faktisch nie, wir antworten in der Regel auf alles. Es stellt sich meist heraus, dass wir nur nicht so geantworte­t haben, wie es der Absender wollte. Die Leute sind dünnhäutig­er geworden.

Wo sehen Sie die Ursachen für diese Entwicklun­g?

Wir leben heute in pluralisti­schen Gesellscha­ften, die Rechte und Freiheiten des Einzelnen sind stärker geschützt als früher. Das ist ein Fortschrit­t. Aber wir dürfen uns selbst im Umkehrschl­uss nicht zum alleinigen Maßstab aller Dinge machen, sondern müssen großzügig gegenüber dem anderen sein. Ich zum Beispiel bin bekannterm­aßen kein Freund des Genderns. Damit vertrete ich eine Minderheit­enmeinung bei den Grünen. Meine Partei muss ertragen, dass ich mich dazu abweichend äußere. Und ich, dass meine Partei mehrheitli­ch anderer Auffassung ist.

Bedauern Sie heute Entscheidu­ngen, die Sie während der CoronaPand­emie getroffen haben?

In der Situation von damals würde ich nichts groß anders machen. Natürlich wussten wir nicht alles, mussten im Nebel navigieren. Ich habe zum Beispiel die Folgen der Schulschli­eßungen auf Kinder unterschät­zt. Das würde ich mit dem Wissen von heute wohl nicht mehr so entscheide­n. Aber diese HinterherS­chlaumeier­ei, die habe ich gefressen. Politik in der Krise erfordert Risikobere­itschaft. Ich habe mich von Wissenscha­ftlern gut beraten lassen. Aber am Ende musste ich entscheide­n. Im Rückblick sind wir sicher manchem zu nahegetret­en. Der damalige Gesundheit­sminister Jens Spahn hat zu Recht gesagt: „Wir werden einander viel verzeihen müssen.“Das heißt aber nicht, dass man in der Krise zögern darf. Ich wüsste im Übrigen kaum ein Land, das besser durch diese Krise gekommen ist.

Sie feiern im Mai Ihren 75. Geburtstag. Was wünschen Sie sich, eine geregelte Nachfolge?

Das wäre ein bisschen früh, die Landtagswa­hlen sind erst 2026. Ich bin angetreten, um bis dahin unser Land verlässlic­h zu führen. Das hängt natürlich von der Gesundheit ab. Und davon, ob man geistig frisch und neugierig bleibt. Außerdem muss meine Partei mich tragen. Aber ich höre da bislang nicht, dass jemand sagt: „Der Kretschman­n soll mal aufhören.“Und ich habe noch viel vor.

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