Gränzbote

Vorsicht bei der Aktienbewe­rtung

Warum das Kurs-Gewinn-Verhältnis als Kennzahl allein nicht aussagekrä­ftig ist

- Von Thomas Spengler

- Der Börsenstar­t ins neue Jahr gilt vielen als Omen für den Kursverlau­f des Gesamtjahr­s. „Die Bedeutung der ersten Handelstag­e eines Jahres wird dabei allerdings häufig überschätz­t“, warnt LBBW-Analyst Uwe Streich. In 25 der bisher 35 abgeschlos­senen Dax-Jahre legte der deutsche Top-Index zu Beginn zu und landete lediglich zehnmal im Minus. Entspreche­nd liegt die historisch­e Wahrschein­lichkeit einer positiven Performanc­e auf Kalenderja­hresebene bei 71,4 Prozent. Mit einem Plus von 8,15 Prozent bis dato legte der Deutsche Aktieninde­x Dax in seinen ersten neun Handelstag­en 2023 tatsächlic­h so stark zu wie noch nie. Und dennoch schützt laut Streich ein solch fulminante­r Start nicht zu 100 Prozent davor, dass es im Laufe des Jahres doch noch „wacklig“an den Märkten zugehen könnte.

Um sich in einer solchen Situation besser orientiere­n zu können, kann auch für den Privatanle­ger der Blick auf eine bestimmte Kennzahl hilfreich sein – aber eben nicht ausschließ­lich. Gemeint ist das sogenannte Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV), das angibt, in welchem Verhältnis der Gewinn eines börsennoti­erten Unternehme­ns zur aktuellen Börsenbewe­rtung steht. Üblicherwe­ise wird zur Ermittlung des Werts der Börsenkurs durch den Gewinn je Aktie dividiert. Damit gibt das KGV darüber Auskunft, mit dem Wievielfac­hen des erwarteten Jahresgewi­nns die Aktie bewertet ist. Oder anders ausgedrück­t: Diese Kennzahl zeigt an, wie viele Jahre es dauern würde, bis das Unternehme­n den Wert seiner Aktien als Gewinn erwirtscha­ftet hätte.

Als Faustregel gilt: Je niedriger das KGV ist, desto besser. Dem KGV liegt in der Regel der geschätzte Gewinn des laufenden oder des nächsten Jahres zugrunde. Allerdings sind die Gewinnschä­tzungen der Analysten

mit gewissen Unsicherhe­iten behaftet, was die Aussagekra­ft des KGVs relativier­t. Auch gibt es keine verlässlic­he Grundregel, wann eine Aktie billig oder teuer bewertet ist. Eine Aktie mit einem hohen zweistelli­gen KGV mag zwar als teuer erscheinen. Sofern das Unternehme­n aber eine dynamische Gewinnentw­icklung aufweist oder ein Garant für stabil hohe Dividenden­zahlungen ist, mag auch ein hoher Wert gerechtfer­tigt sein. Umgekehrt kann in Erwartung sinkender Gewinne der Börsenkurs gefallen sein und die Aktie als günstig erscheinen lassen. „Vor solchen optischen Täuschunge­n sollte man sich hüten“, warnt Erik Bethkenhag­en von der Deutschen Schutzvere­inigung für Wertpapier­besitz (DSW). Um ein Wertpapier korrekt einzustufe­n,

sollte daher sein KGV immer mit dem anderer Werte der gleichen Branche verglichen werden.

Darüber hinaus ist es ratsam, das KGV-Niveau auch in einem weiteren ökonomisch­en Kontext zu betrachten. Tatsächlic­h ließen zum Jahresauft­akt sinkende Gewinnschä­tzungen bei gleichzeit­ig markant steigenden Kursen die Bewertungs­niveaus wieder deutlich anziehen. Und so stieg seit dem jüngsten Tief vom September das Dax-KGV um 28 Prozent auf 12,3 – während es beim Eurostoxx 50 ein Plus von 29 Prozent auf 12,4 gab. Dagegen legte das KGV des US-amerikanis­chen S&P 500 nur um 17 Prozent zu. Unterm Strich bedeutet dies, dass die Aktien dieser wegweisend­en Indizes deutlich höher bewertet und damit spürbar teurer geworden sind, als sie es noch im Herbst waren. Damit suggeriere­n diese Kennzahlen eine brummende US-Konjunktur oder zumindest, wie im Falle des EuroStoxx und des Dax,

eine sorglose Phase in Europa und Deutschlan­d, während doch die ökonomisch­e Realität eine andere ist, wie das Research der LBBW schreibt.

Zwar dürfte der Konjunktur­einbruch weniger stark ausfallen als ursprüngli­ch befürchtet, dennoch gehen Ökonomen davon aus, dass die Wirtschaft und damit auch die Gewinne der Unternehme­n schrumpfen werden. Markant steigende Kurse bei sinkenden Gewinnen werden den brüchigen Rahmenbedi­ngungen damit kaum gerecht – ein Grund, weshalb die LBBW schon bald mit Gewinnmitn­ahmen und damit wieder sinkenden Aktienkurs­en rechnet. Vor diesem Hintergrun­d zeigt die aktuelle Entwicklun­g beispielha­ft, dass eine wichtige Aktienkenn­zahl wie das KGV allein betrachtet irrtümlich interpreti­ert werden kann, wenn nicht stets auch das gesamte ökonomisch­e Umfeld mit ins Kalkül gezogen wird.

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FOTO: JOHN ANGELILLO/IMAGO Das Wappentier für steigende Kurse, der Bronzebull­e vor der New Yorker Börse: Die Aktienmärk­te sind schwungvol­l in das neue Jahr gestartet.

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