Vorsicht bei der Aktienbewertung
Warum das Kurs-Gewinn-Verhältnis als Kennzahl allein nicht aussagekräftig ist
- Der Börsenstart ins neue Jahr gilt vielen als Omen für den Kursverlauf des Gesamtjahrs. „Die Bedeutung der ersten Handelstage eines Jahres wird dabei allerdings häufig überschätzt“, warnt LBBW-Analyst Uwe Streich. In 25 der bisher 35 abgeschlossenen Dax-Jahre legte der deutsche Top-Index zu Beginn zu und landete lediglich zehnmal im Minus. Entsprechend liegt die historische Wahrscheinlichkeit einer positiven Performance auf Kalenderjahresebene bei 71,4 Prozent. Mit einem Plus von 8,15 Prozent bis dato legte der Deutsche Aktienindex Dax in seinen ersten neun Handelstagen 2023 tatsächlich so stark zu wie noch nie. Und dennoch schützt laut Streich ein solch fulminanter Start nicht zu 100 Prozent davor, dass es im Laufe des Jahres doch noch „wacklig“an den Märkten zugehen könnte.
Um sich in einer solchen Situation besser orientieren zu können, kann auch für den Privatanleger der Blick auf eine bestimmte Kennzahl hilfreich sein – aber eben nicht ausschließlich. Gemeint ist das sogenannte Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV), das angibt, in welchem Verhältnis der Gewinn eines börsennotierten Unternehmens zur aktuellen Börsenbewertung steht. Üblicherweise wird zur Ermittlung des Werts der Börsenkurs durch den Gewinn je Aktie dividiert. Damit gibt das KGV darüber Auskunft, mit dem Wievielfachen des erwarteten Jahresgewinns die Aktie bewertet ist. Oder anders ausgedrückt: Diese Kennzahl zeigt an, wie viele Jahre es dauern würde, bis das Unternehmen den Wert seiner Aktien als Gewinn erwirtschaftet hätte.
Als Faustregel gilt: Je niedriger das KGV ist, desto besser. Dem KGV liegt in der Regel der geschätzte Gewinn des laufenden oder des nächsten Jahres zugrunde. Allerdings sind die Gewinnschätzungen der Analysten
mit gewissen Unsicherheiten behaftet, was die Aussagekraft des KGVs relativiert. Auch gibt es keine verlässliche Grundregel, wann eine Aktie billig oder teuer bewertet ist. Eine Aktie mit einem hohen zweistelligen KGV mag zwar als teuer erscheinen. Sofern das Unternehmen aber eine dynamische Gewinnentwicklung aufweist oder ein Garant für stabil hohe Dividendenzahlungen ist, mag auch ein hoher Wert gerechtfertigt sein. Umgekehrt kann in Erwartung sinkender Gewinne der Börsenkurs gefallen sein und die Aktie als günstig erscheinen lassen. „Vor solchen optischen Täuschungen sollte man sich hüten“, warnt Erik Bethkenhagen von der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW). Um ein Wertpapier korrekt einzustufen,
sollte daher sein KGV immer mit dem anderer Werte der gleichen Branche verglichen werden.
Darüber hinaus ist es ratsam, das KGV-Niveau auch in einem weiteren ökonomischen Kontext zu betrachten. Tatsächlich ließen zum Jahresauftakt sinkende Gewinnschätzungen bei gleichzeitig markant steigenden Kursen die Bewertungsniveaus wieder deutlich anziehen. Und so stieg seit dem jüngsten Tief vom September das Dax-KGV um 28 Prozent auf 12,3 – während es beim Eurostoxx 50 ein Plus von 29 Prozent auf 12,4 gab. Dagegen legte das KGV des US-amerikanischen S&P 500 nur um 17 Prozent zu. Unterm Strich bedeutet dies, dass die Aktien dieser wegweisenden Indizes deutlich höher bewertet und damit spürbar teurer geworden sind, als sie es noch im Herbst waren. Damit suggerieren diese Kennzahlen eine brummende US-Konjunktur oder zumindest, wie im Falle des EuroStoxx und des Dax,
eine sorglose Phase in Europa und Deutschland, während doch die ökonomische Realität eine andere ist, wie das Research der LBBW schreibt.
Zwar dürfte der Konjunktureinbruch weniger stark ausfallen als ursprünglich befürchtet, dennoch gehen Ökonomen davon aus, dass die Wirtschaft und damit auch die Gewinne der Unternehmen schrumpfen werden. Markant steigende Kurse bei sinkenden Gewinnen werden den brüchigen Rahmenbedingungen damit kaum gerecht – ein Grund, weshalb die LBBW schon bald mit Gewinnmitnahmen und damit wieder sinkenden Aktienkursen rechnet. Vor diesem Hintergrund zeigt die aktuelle Entwicklung beispielhaft, dass eine wichtige Aktienkennzahl wie das KGV allein betrachtet irrtümlich interpretiert werden kann, wenn nicht stets auch das gesamte ökonomische Umfeld mit ins Kalkül gezogen wird.