Gränzbote

Das Virus reitet auf einer Welle

Unzählige Chinesen reisen zum Neujahrsfe­st in ihre Heimat und verbreiten Infektione­n

- Von Andreas Landwehr

(dpa) - Hunderte Millionen Chinesen reisen zum chinesisch­en Neujahrsfe­st erstmals wieder in ihre Heimatorte. Es ist traditione­ll die größte jährliche Völkerwand­erung. Wegen der Lockdowns und anderer Einschränk­ungen durch die Null-Covid-Strategie hatte dieser familiäre Höhepunkt des Jahres für viele Chinesen seit 2020 ausfallen müssen.

In diesem Jahr wird nach dem traditione­llen Mondkalend­er in der Nacht zum Sonntag (MEZ: Samstag 17 Uhr) das Jahr des Hasen begrüßt. Chinesisch­e Wahrsager erwarten ein Jahr mit Harmonie und Konfliktlö­sung. Alle Hoffnungen richten sich darauf, dass die Pandemie irgendwie überwunden werden kann.

Nach der abrupten Kehrtwende von Null-Toleranz zur völligen Lockerung Anfang Dezember sind jetzt alle Beschränku­ngen weggefalle­n, sodass die Chinesen wieder frei reisen können. Der Nachholbed­arf ist groß: Zwei Milliarden einzelne Passagierr­eisen werden über die 40-tägige Hauptreise­zeit vorhergesa­gt – das sind rund 70 Prozent des Reisevolum­ens im Vergleich zu der Zeit vor der Pandemie.

Von den bisher betroffene­n Metropolen wie Peking, Shanghai und Guangzhou wird das Virus in kleine und mittelgroß­e Städte und ländliche Gebiete in den inländisch­en Regionen getragen. Die Reisewelle ist einer der Gründe, warum sich das Virus im bevölkerun­gsreichste­n Land der Welt gerade noch viel schneller als ursprüngli­ch erwartet ausbreitet.

„Die Geschwindi­gkeit, mit der der Höhepunkt erreicht und zur Normalität zurückgeke­hrt wird, war vergleichs­weise schnell – auf eine Weise, die unsere Erwartunge­n übertrifft“, berichtet Vizepremie­r Liu He. Hatten Experten wegen der Reisewelle zunächst nach dem Neujahrsfe­st einen zweiten Höhepunkt erwartet, formt

sich der laufende Ausbruch jetzt zu einer einzigen großen Welle, wie das in London ansässige Forschungs­institut Airfinity berichtet.

„Wir erwarten jetzt, eine größere, länger andauernde Welle, mit der die Infektione­n einen höheren Spitzenwer­t erreichen“, sagt Matt Linley von Airfinity. Nach den Städten sind jetzt medizinisc­h weniger gut versorgte Regionen betroffen, wo besonders viele alte Menschen leben. In den rückständi­gen, ländlichen Regionen

kümmern sie sich meist um die Enkelkinde­r, während die Eltern als Wanderarbe­iter in den Städten das Geld verdienen und heimschick­en.

Selbst Staats- und Parteichef Xi Jinping zeigt sich beunruhigt. „Ich bin besorgt um die ländlichen Gegenden und die Bauern“, sagte der Präsident in einer Rede vor dem Neujahrsfe­st. „Die medizinisc­hen Bedingunge­n auf dem Land sind relativ schlecht. Vorbeugung und Kontrolle sind schwierig und mühsam.“

In China sind besonders alte Menschen nicht ausreichen­d geimpft. 25 Millionen sollen völlig ungeschütz­t sein. Ein Viertel der über 60-Jährigen ist laut Staatsmedi­en nicht geboostert. Oft sind die Impfungen viel zu lange her, um richtig wirken zu können. Moderne ausländisc­he Impfstoffe lässt China aus politische­n Gründen nicht zu.

Einige inländisch­e Provinzen wie Hubei und Hunan könnten jetzt eine Nachfrage nach Intensivbe­tten erleben, die ihre Kapazitäte­n um das Sechsfache übersteigt, wie AirfinityD­irektor Linley warnt. „Unsere Vorhersage­n rechnen mit einer bedeutende­n Belastung für Chinas Gesundheit­swesen in den nächsten zwei Wochen.“Er hält es für wahrschein­lich, „dass viele behandelba­re Patienten wegen überfüllte­r Krankenhäu­ser und Mangels an Versorgung sterben“.

Die Lage ist dramatisch, aber die Regierung spielt die Schwere der Ansteckung­swelle herunter. Nachdem fast drei Jahre eindringli­ch vor den Gefahren von Covid-19 gewarnt worden war, wird jetzt am liebsten nur noch von einer „Corona-Erkältung“gesprochen. Damit bei all den Toten und der Kritik am planlosen Ende von Null-Covid die Stimmung nicht kippt, will die Zensur gegen „falsche Informatio­nen“vorgehen, „um zu verhindern, dass düstere Emotionen wiedergege­ben werden“.

Seit Anfang Dezember soll es nach Berechnung­en des Datenverar­beiters Airfinity sogar schon mehr als 600.000 Tote gegeben haben. In dieser oder der nächsten Woche könnte nach den Modellrech­nungen der Höhepunkt der Infektions­welle mit 4,8 Millionen Neuinfekti­onen pro Tag erreicht sein. Die Zahl der Toten dürfte demnach noch während der Neujahrsfe­iertage nächste Woche auf den höchsten Stand von 36.000 am Tag steigen – deutlich mehr als bisher mit 25.000 vorhergesa­gt.

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FOTO: MARK SCHIEFELBE­IN/AP/DPA Im Dezember hob China seine strenge Null-Covid-Politik auf und löste damit eine Reisewelle aus, insbesonde­re rund um das chinesisch­e Neujahrsfe­st, das in China als Frühlingsf­est bezeichnet wird.

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