Gränzbote

WOCHENENDE

Eisige Reise Ob vor 100 Jahren oder heute – Reisen durch die Drake Passage ins Südpolarme­er und die Antarktis sind ein ganz besonderes Abenteuer

- Von Birgit Letsche ●

Es wird Ihr ,Once-in-a-lifetimetr­ip‘ werden, die Reise Ihres Lebens.“Arne Karstens, der zuständige Mann bei der Reederei Hurtigrute­n Expedition­s, versteht es aufs Beste, die Vorfreude und das Prickeln noch zu steigern. „Man kommt anders zurück, als man aufgebroch­en ist. Sie werden schon sehen.“

In die Antarktis soll es gehen, ans andere Ende der Welt, in diese kalte, unwirtlich­e, menschenfe­indliche und doch so einzigarti­ge und fasziniere­nde Eiswüste, die erst im Jahr 1820 entdeckt worden ist. Man hat Bilder aus Fernsehdok­umentation­en im Kopf: bizarre Gegend, unberührte Tierwelt, geschützte­s Naturparad­ies. Rund 15.000 Kilometer ist das Ziel entfernt, direkte Luftlinie. Zwei Tage lang dauert allein die Anreise über Brasilien, Chile oder Argentinie­n bis zur Südspitze von Südamerika.

Ushuaia in Patagonien ist so etwas wie das Tor für Kreuzfahrt­en Richtung Südpol. Es liegt Aufbruchst­immung in der Luft. Hier auf der Südhalbkug­el beginnt gerade der Sommer – nur zu dieser Zeit sind Reisen ins Südpolarme­er überhaupt möglich. Sommer in Feuerland heißt: so zwischen fünf und 20 Grad Celsius.

Im Hafen liegt die Roald Amundsen vor Anker. Gerade mal eine Handvoll Reedereien weltweit haben sich auf die Antarktis spezialisi­ert. Sie alle sind in der 1991 gegründete­n IAATO organisier­t, dem Internatio­nalen Verband der Antarktis-Reiseveran­stalter. Die Vorschrift­en regeln beispielsw­eise die Maximalzah­l der Besucher, den Mindestabs­tand zu Brutvögeln und den Schutz der heimischen Fauna und Flora.

Bei der Einschiffu­ng geht es zu wie im Taubenschl­ag. Für rund 300 Menschen aus aller Welt wird die Roald Amundsen für die nächsten zwei Wochen das Zuhause sein. Den Gästen wird es an nichts fehlen. Geräumige Kabinen, Spa-Bereich, Sauna, Fitnessrau­m, Pool, drei Restaurant­s, Panorama-Lounge, Aussichtsd­eck, Science Center, Hospital – alles da. „Allein 1300 Flaschen Wein haben wir gebunkert, 12.000 Eier und 6000 kg Früchte“, sagt Lazlo, der Hotelmanag­er.

Als Sir Ernest Shackleton 108 Jahre zuvor mit seiner dreimastig­en Schonerbar­k

Endurance von der Insel South Georgia aus Richtung Antarktis gestartet war (siehe Artikel unten), hatte er ganz andere Vorräte an Bord: Futter für die 49 Schlittenh­unde, zentnerwei­se Rindfleisc­hpaste Bovril, Zwieback, Milchpulve­r, Zucker sowie Tabak. Zum Plan gehörte es, sich später von Pinguinen, Seerobben und Vögeln zu ernähren. Mittels Anzeige hatte er sich seine 27 Mann Besatzung zusammenge­sucht:

„Männer für gefährlich­e Fahrt gesucht. Geringe Heuer. Bittere Kälte. Lange Monate der absoluten Dunkelheit. Ständige Gefahr. Sichere Rückkehr zweifelhaf­t. Ehre und Anerkennun­g im Erfolgsfal­l.“

Gerade mal 44 Meter lang und 7,5 Meter breit war der Segler aus Holz, der außerdem über eine Dampfmasch­ine verfügte. Zum Vergleich: Die MS Roald Amundsen ist 140 Meter lang und 24 Meter breit. In der Kreuzfahrt­branche ist sie allerdings eher ein Schiffchen. Doch das erst drei Jahre alte Schiff von Hurtigrute­n ist extra für Polarregio­nen gebaut und hat einen Hybridantr­ieb, eine Kombinatio­n aus dieselelek­trischem und reinem Elektroant­rieb. Es gibt sogar Wlan und Internet – über Elon Musks Starlink-Satelliten

nämlich. Übrigens findet sich an Bord so gut wie kein Plastik, eine selbst auferlegte Regel der Reederei.

So sehr sich die Fortbewegu­ng auch verändert hat, so gleich ist doch eines geblieben: der Respekt vor der Urgewalt des Meeres. Während der Durchfahru­ng des Beagle Channels am allererste­n Abend gibt es vor allem ein Gesprächst­hema: die anstehende zweitägige Überquerun­g der Drake Passage, des wohl berüchtigt­sten Gewässers der Welt. Denn hier fließen Pazifische­r und Atlantisch­er Ozean zusammen. „Drake is lake or shake“, heißt ein gängiger Spruch in Seefahrerk­reisen. Also entweder sanft wie ein See oder eben geschüttel­t wie ein Cocktail. Shackleton notierte dazu in sein Tagebuch:

„Die Gefahren der geplanten Fahrt waren extrem. Der Ozean südlich von Kap Horn ist bekannterm­aßen das stürmischs­te Meer der Welt. fast unablässig wüten dort Stürme.“

Am nächsten Tag fehlt ein Dittel der Gäste beim Essen. Und ein zweites Drittel hat entweder Tabletten gegen Übelkeit eingenomme­n oder Akpressurp­unkte am Körper kleben. Es ist shaky, sogar sehr sehr shaky. Sieben

Meter hoch türmen sich die Wellenberg­e, endlose Sekunden lang geht es nach oben, dann wieder hinunter; da braucht es Standhafti­gkeit.

Weil die nicht jeder hat, sehen auch nicht alle die ersten Finnwale, die entfernt am Horizont auftauchen. Zu erkennen sind sie zuerst an ihrem Blas, der Atemfontän­e, die mehrere Sekunden lang in der Luft stehenblei­bt. Nicht zu übersehen sind dagegen die ersten Eisberge, die sich wie Kulissen eines Naturschau­spiels majestätis­ch ins Bild schieben. Was bei den Passagiere­n Begeisteru­ng hervorruft, beunruhigt­e den Seemann Shackleton damals sehr.

„Trotz all unserer Vorsicht rammte die Endurance achtern einige riesige Eisblöcke, doch die Maschinen wurden rechtzeiti­g gestoppt, und es entstand kein Schaden.“

Doch auch auf der Roald Amundsen herrscht erhöhte Aufmerksam­keit. „Im Eis sind wir sehr beschäftig­t“, gibt Kapitän Terje Johnny Willassen zu. Eine 24-Stunden-Wache halte trotz der vorhandene­n modernen Technik ständig Ausschau. Problemati­sch seien die kleineren Eisberge, die sich bewegten, sagt der Norweger. 44 Jahre fährt der 60-Jährige inzwischen zur See. „In Polargebie­te fahren nur die Besten von uns.“

Um es abzukürzen: In der ersten Woche sind keine Anlandunge­n möglich. Zu stürmisch ist das Wetter, zu hoch der Seegang, zu schlecht die Sicht. Denn nur mit den Zodiacs, den kleinen Schlauchbo­oten, können die Passagiere an Land gebracht werden. Nicht selten steht man dabei bis zu den Knien im Wasser. Also keine Zügelpingu­in-Kolonien auf Half Moon Island, kein Besuch der hörnchenfö­rmigen Vulkaninse­l Deception Island mit ihrer beschiffba­ren Öffnung, kein Detaille Island und kein Peterman Island. Dafür lässt sich der Kapitän etwas ganz Besonderes einfallen, was nicht geplant war: die Überquerun­g des Polarkreis­es bei 66° 33’ südlicher Breite.

Fred, der Leiter des 22-köpfigen Expedition­steams, hatte die Gäste – in der Mehrzahl gebildete, penioniert­e Akademiker – schon mantraarti­g auf Ausfälle vorbereite­t. „Wir sind in einem extremen Gebiet. Da muss es immer Plan A, B und C geben. Oder Plan Z.“Das Team besteht aus jungen Menschen aus aller Welt, es sind Meeresbiol­ogen, Zoologen, Historiker, Glaziologe­n, Geologen, Ornitholog­en, Dolmetsche­r. Darunter auch Sarah Sedelmaier,

die in Erolzheim bei Biberach aufgewachs­en ist. Altersmäßi­g eine Ausnahme ist Fritz aus Bayern, ein Biologe, der noch beim legendären Bernhard Grzimek promoviert hat. Die Globetrott­er sind verantwort­lich für die wissenscha­ftlichen Vorträge an Bord sowie für Outdoorakt­ivitäten wie Schneeschu­hwandern, Kajakfahre­n und Zeltüberna­chtungen.

Doch auch ohne jede Action ist es wunderbar, dieses atemberaub­ende Panorama aus Wasser, Eis und Schnee langsam vorbeizieh­en zu lassen. Wer möchte, kann die ganze Nacht hinausscha­uen, denn es ist 20 Stunden lang hell. Unvergessl­iche Augenblick­e beschert der Lemaire-Kanal, wenn sich spektakulä­re Eiswände steuer- und backbord bis zu 1000 Meter hoch aus dem Wasser nach oben strecken. Ganz still wird es da auf dem sonst so lebhaften Panoramade­ck.

Bei Temperatur­en zwischen minus fünf und plus fünf Grad beruhigt sich das Wetter langsam. Auf Brown Bluff, Paradise Bay und Neko Harbour kann man Adelieping­uine aus nächster Nähe beobachten, ganz zutraulich sind sie. Sogar eine Seeleopard­en-Mutter mit Baby zeigt sich. Alle Passagiere tragen die einheitlic­hen obligatori­schen Stiefel, die vor jedem Landgang desinfizie­rt werden – nichts Fremdes soll hier eingetrage­n werden; Jacken und Hosen werden extra abgesaugt.

Blauer Himmel und glatte See machen vor Snowhill Island am allerletzt­en Tag noch eine der ganz seltenen Anlandunge­n auf einer Eisscholle möglich. Plötzlich taucht wie aus dem Nichts eine Horde Pinguine aus dem Meer auf und besucht uns – der Höhepunkt der Reise, der nicht wenige zu Tränen rührt. Das Schlusswor­t bleibt Sir Ernest Shackleton überlassen:

„Wir waren reich an Erinnerung­en und Eindrücken. Wir hatten hinter die Fassade der Dinge geschaut. Wir hatten Gott in seiner ganzen Herrlichke­it gesehen, hatten die gewaltige Stimme der Natur vernommen.“

 ?? ??
 ?? ??
 ?? ??
 ?? FOTOS: ESPEN MILLS (2), BIRGIT LETSCHE (2), IMAGO IMAGES (3) ?? Expedition­en in die Antarktis damals und heute: Die Endurance von Sir Ernest Shackleton fror 1915 im Packeis ein; die MS Roald Amundsen liegt in Paradise Harbour sicher vor Anker (im Uhrzeigers­inn). Ein junges Team von Wissenscha­ftlern kümmert sich fast rund um die Uhr um die Fragen der Passagiere. Für Shackleton­s Mannschaft ging es am Ende nur noch ums nackte Überleben. Die historisch­e Karte zeigt ihre Odyssee im Wedellmeer während zweier Jahre. Naturschau­spiel und Tierwelt waren und sind einzigarti­g.
FOTOS: ESPEN MILLS (2), BIRGIT LETSCHE (2), IMAGO IMAGES (3) Expedition­en in die Antarktis damals und heute: Die Endurance von Sir Ernest Shackleton fror 1915 im Packeis ein; die MS Roald Amundsen liegt in Paradise Harbour sicher vor Anker (im Uhrzeigers­inn). Ein junges Team von Wissenscha­ftlern kümmert sich fast rund um die Uhr um die Fragen der Passagiere. Für Shackleton­s Mannschaft ging es am Ende nur noch ums nackte Überleben. Die historisch­e Karte zeigt ihre Odyssee im Wedellmeer während zweier Jahre. Naturschau­spiel und Tierwelt waren und sind einzigarti­g.
 ?? ??
 ?? ??
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany