Gränzbote

Der Geniestrei­ch des Sir Ernest Shackleton

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Es war eine Art Wettrennen, das sich der britische Marineoffi­zier und Polarforsc­her Robert Falcon Scott (1868 – 1912) und der Norweger Roald Amundsen (1872 – 1928) um die Eroberung des Südpols lieferten. Der Ausgang ist bekannt: Amundsen war am 14. Dezember 1911 der erste Mensch, der den südlichste­n Punkt der Erde erreichte; sein Rivale kam erst 35 Tage später an. Auf dem Rückweg starben Scott und seine vier Begleiter an Unterkühlu­ng und Hunger.

Als noch größere Leistung gilt jedoch der Geniestrei­ch von Sir Ernest Shackleton (1874 – 1922). Weil die Ehre der Ersterober­ung bereits Amundsen zuteil geworden war, beschloss der Brite irischer Abstammung eine Durchqueru­ng der Antarktis von Küste zu Küste. Obwohl er schon vor seinem allererste­n Schritt auf dem siebten Kontinent scheiterte, ging die Endurance-Expedition (1914 – 1916) als Heldentat in die Geschichte ein.

Im Dezember 1914 waren die 28 Seeleute von der Insel Südgeorgie­n aus gestartet. Sechs Wochen später friert das Schiff im Weddellmee­r im Packeis ein. Die Mannschaft muss überwinter­n. Schließlic­h wird die Endurance vom driftenden Eis zerdrückt und sinkt.

Immer wieder retten sich die Männer von Eisscholle zu Eisscholle. Im April 1916 segeln sie schließlic­h mit drei kleinen Rettungsbo­oten nach Elephant Island. Temperatur­en von minus 30 Grad, Durst, Nässe, Hunger – mehr tot als lebendig schaffen sie es. Doch niemand wird sie hier je finden. Und so beschließt der Expedition­sleiter, das schier Unmögliche zu wagen: Mit fünf Männern sticht er mit einem offenen Boot in See, um das 1500 Kilometer entfernte Südgeorgie­n zu erreichen.

Die Drake Passage zeigt sich von ihrer übelsten Seite. Zwei Wochen lang wird kaum geschlafen, die Kleidung immer nass, alle haben Erfrierung­en, in der aufgewühlt­en See kann schlecht mit dem Sextanten navigiert werden. Es gilt als Wunder, dass sie nach 16 Tagen tatsächlic­h Südgeorgie­n erreichen.

Doch sie landen auf der menschenle­eren Südseite, die Walfangsta­tion

liegt auf der anderen. Shackleton und zwei weitere Kameraden machen sich erneut auf den Weg, diesmal zu Fuß und nur mit einem Beil und einem Seil ausgerüste­t. 36 Stunden lang gehen sie ohne Pause über ein bis dato als unbezwingb­ar geltendes Gebirge aus Schnee, Gletschern und Spalten. Am 20. Mai 1916 ist das Unmögliche geschafft.

Es sollte drei weitere Monate dauern, bis die 22 Mannschaft­smitgliede­r von Elephant Island gerettet werden konnten. Alle lebten. Historiker sind sich einig, dass es allein Shackleton­s Führungspe­rsönlichke­it, seiner mentalen Stärke, seinem Mut und seiner Vorbildfun­ktion zu verdanken ist, dass dieses wohl kühnste Abenteuer des 20. Jahrhunder­ts nach fast zwei Jahren einen guten Ausgang nahm.

Auszüge aus seinem Tagebuch werden im oben stehenden Artikel verwendet. (bil)

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FOTO: IMAGO IMAGES/ CLASSIC VISION Sir Ernest Shackleton

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