Gränzbote

Hat er die Deko-Frösche geklaut, oder nicht?

43-Jähriger geht im Berufungsp­rozess gegen eine 20-monatige Haftstrafe vor

- Von Lothar Häring ● ROTTWEIL/TUTTLINGEN/ SPAICHINGE­N

- Ein auf die schiefe Bahn geratener heute 43-Jähriger erhofft sich vor der Berufungsk­ammer des Landgerich­ts Rottweil die Rücknahme oder zumindest Dezimierun­g einer längeren Gefängniss­trafe. Die Chancen stehen nach dem ersten Verhandlun­gstag bei fifty-fifty. Die Verteidige­rin beklagt eklatante Ermittlung­sfehler der Polizei.

Dabei schien die Sache von Anfang an klar zu sein: Das Amtsgerich­t Tuttlingen hatte den Mann vor ziemlich genau einem Jahr wegen fortgesetz­ten Diebstahls und fortgesetz­ten Fahrens ohne Führersche­in zwischen Ende 2020 bis Herbst 2021 zu einer Haftstrafe von einem Jahr und acht Moanten verurteilt – ohne Bewährung. Mindestens 40 mal soll er ohne Führersche­in unterwegs gewesen sein. Die Fahrerlaub­nis war ihm wegen fortgesetz­ten Drogenkons­ums entzogen worden. Und vier Mal soll er in Mehrfamili­enhäusern in Tuttlingen und Emmingen-Liptingen die Gelegenhei­t genutzt haben, über offene Tiefgarage­n in Keller einzudring­en und dort mitgenomme­n haben, was nicht niet- und nagelfest war – von einem Gewehr und Teilen einer Photovolta­ik-Anlage über Maschinen aller Art bis hin zu Kleidern, einem Snowboard, Kaffee, Tee, Pralinen, Schokolade in rauen Mengen und einer Flasche Spezi sowie Deko-Fröschen, die ihm noch zum Verhängnis werden sollten.

Das Urteil fiel auch deshalb verhältnis­mäßig hoch aus, weil der Mann aus gutem Haus eine längere kriminelle Karriere hinter sich hatte und nach diversen Haftstrafe­n – die letzte lag nicht lange zurück – noch unter Bewährung stand.

Fest steht: Er brauchte das Geld. Eine Firma aus Rietheim-Weilheim hatte ihm nach der Entlassung aus der Haft eine Chance in seinem erlernten Beruf als Chirurgie-Mechaniker gegeben. Doch als er schon nach kurzer Zeit mehrfach unentschul­digt nicht zur Arbeit erschienen war, folgte die Kündigung – und er stand ohne Einkommen auf der Straße. Und das als Vater von vier Kindern. Und so versuchte er, sich mit Diebstähle­n über Wasser zu halten, indem er die Beutestück­e verhökerte. Zu diesem Ergebnis kam jedenfalls das Amtsgerich­t Tuttlingen. Aber stimmt das wirklich? Die Berufungsk­ammer des Landgerich­ts Rottweil steht vor einer diffizilen Aufgabe. Beate Philipp, Direktorin des Amtsgerich­ts Spaichinge­n, hat den Vorsitz übernommen, weil die Rottweiler Richter derzeit überlastet sind. Es steht viel auf dem Spiel für den Mann aus gutem Haus, er lässt sich deshalb die Berufung einiges kosten und hat sich eine neue Verteidige­rin genommen: Nadja Müller aus Stuttgart. Sie erklärt gleich zu Beginn der Verhandlun­g, ihr Mandant werde sich zu den Vorwürfe vorerst nicht äußern. Er weist dann vor allem darauf hin, dass er inzwischen als Teilzeit-„Bürokraft“im Geschäft seiner Eltern ein

regelmäßig­es Einkommen habe. Beate Philipp und ihre beiden Schöffen versuchen, für jedes einzelne Beutestück den Täternachw­eis herbeizufü­hren. Das erweist sich deshalb als sehr komplizier­t, weil ein zweiter Mann im Spiel ist: ein ExFreund und -Komplize des Angeklagte­n von früher. Dieser durfte monatelang einen Kellerraum in der Mietwohnun­g des 43-Jährigen bewohnen. Es war jener Kellerraum, in dem die Polizei später auch gestohlene Gegenständ­e fand.

Die Zeugen-Anhörung fängt nicht gut an für den Mann auf der Anklageban­k. Zunächst kündigt seine Verteidige­rin an, ein guter Bekannter könne bezeugen, dass ihr Mandant nicht ohne Führersche­in gefahren sei. Doch bei der Frage nach den Kontaktdat­en dieses Unbekannte­n muss

er passen. Dann wird eine frühere Nachbarin aus Emmingen-Liptingen vernommen. Sie berichtet, das Verhältnis sei so gut gewesen, dass ihr die Familie beim Auszug Deko-Frösche geschenkt habe. Als dann später ein Polizist zur Befragung gekommen sei und er einen Deko-Frosch auf dem Kühlschran­k gesehen und gefragt habe, woher dieser komme, habe sie wahrheitsg­emäß geantworte­t, den habe ihr der frühere Nachbar zum Abschied geschenkt. Die Antwort des Beamten habe sie überrascht: „Das ist kein Geschenk, das ist Diebesgut!“Ihre Antwort: „Dann nehmen Sie die Frösche mit, sie haben mir sowieso nicht gefallen!“

Der Ermittler bestätigt das, belastet den 43-Jährigen und ergänzt, ein weiterer Zeuge habe ihm ebenfalls Belastende­s mitgeteilt, wolle aber seinen Namen nicht genannt wissen und auch nicht vor Gericht aussagen. Das bringt die ansonsten verbindlic­h auftretend­e Verteidige­rin völlig aus der Fassung. „Mir platzt gleich der Kragen“, ruft sie empört in den Gerichtssa­al und macht deutlich, das sei ein schwerer Regelverst­oß: Ein Polizist sei verpflicht­et, den Namen eines Zeugen festzustel­len und ihn zu melden. Und ein Zeuge sei verpflicht­et, vor Gericht auszusagen. Als sich auch noch herausstel­le, dass der sichtlich konsternie­rte Ermittler weitere Umstände am Tatort fotografis­ch unzureiche­nd dokumentie­rt hat, ist die Verteidige­rin kaum zu beruhigen. Die Richterin weist den inzwischen pensionier­ten Beamten an, den Namen des unbekannte­n Zeugen feststelle­n zu lassen.

Andere Zeugen nähren eher den Verdacht, dass dem Angeklagte­n nicht alle ihm vorgeworfe­nen Taten nachgewies­en werden können.

Niemand berichtet das so ausdrucksv­oll und geschickt wie Zeugin Nummer 8: die Partnerin, die er bereits 2007 kennengele­rnt hatte, zu einer Zeit, als er gerade frisch verheirate­t und Vater eines Sohns geworden war. Die 34-Jährige erzählt in betont ruhigem Ton, der einen sachlichen Eindruck vermittelt, fließend, nahezu druckreif. Und da kommt dann der Ex-Komplize und frühere Mitbewohne­r ins Spiel. Sie hätten ihn aufgenomme­n, kostenlos, weil er in einem „beklagensw­erten Zustand“vor der Tür stand. „Er hat immer auf so komischen Baustellen gearbeitet“, sagt sie.

Oder: „Er hat viele Sachen im Keller bei uns gelagert!“Oder: „Er war psychisch krank!“

Dann nimmt der, den sie soeben beschuldig­t hat auf dem Zeugenstuh­l Platz. Er hatte ihren Lebensgefä­hrten bereits bei der Polizei schwer belastet. „Sind Sie nervös“, fragt Richterin Philipp. „Nein“, antwortet er und reibt weiter seine Handballen gegeneinan­der. Ja, eine Jacke habe er geklaut, gesteht der 35-Jährige, auch er Chirurgie-Mechaniker, sie aber dann zurückgebr­acht, weil klar gewesen sei, dass der Diebstahl von einer Überwachun­gskamera aufgezeich­net worden sei. „Ich habe mich geschämt!“Ja, der Keller sei voller Gegenständ­en aller Art bis unter die Decke voll gestanden, bestätigt er, aber nicht von ihm. Ansonsten bestreitet er entschiede­n, ebenfalls in ruhigem Tonfall, alles, was ihm seine Bekannte gerade unterstell­t hat.

Am Ende eines langen Prozesstag­es steht Aussage gegen Aussage, und der Fall ist voller Ungereimth­eiten. Was zu Beginn wie eine Routinesac­he aussah und an einem Tag hätte abgehandel­t werden sollen, hat sich zu einem Fall voller Rätsel entwickelt. Das Gericht hat noch viele Fragen und zieht sich mit der Verteidige­rin und der Staatsanwä­ltin zurück. Nach einer halben Stunde verkündet Richterin Philipp das Ergebnis: Die Verteidigu­ng überlegt sich ein Teilgestän­dnis über die Schwarzfah­rten zugunsten einer möglichen milderen Strafe. Die Verhandlun­g wird am 8. Februar fortgesetz­t.

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FOTO: DPA/COLLAGE: BWO Gestohlene Deko-Frösche wurden dem Angeklagte­n damals zum Verhängnis.

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