Geschichte der verpassten Chancen
Westen hat diplomatische Annäherungen an Russland jahrzehntelang vernachlässigt
- Eine wenig originelle Weisheit Wladimir Putins lautet: „Wenn die Prügelei unvermeidbar ist, musst du als erster zuschlagen.“Den Satz münzte er 2015 auf Russlands Syrien-Intervention. Aber jetzt streiten die Experten, ab welchem Zeitpunkt der Kremlchef auch seinen Feldzug in der Ukraine für unvermeidbar hielt. Ab wann war keine Verhandlungslösung mehr möglich? Und hat die Diplomatie Chancen verpasst?
Das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen gilt schon seit Putins Wutrede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 als verkorkst, als er den USA vorwarf, die Welt allein dominieren zu wollen. Aber auf dem Kriegspfad war er noch nicht, ein Jahr später trat er gemäß Verfassung zurück und überließ seinem Gefolgsmann Dmitri Medwedew für eine Amtsperiode die Präsidentschaft, ein klares Signal, dass er nach wie vor bereit war, rechtsstaatliche Spielregeln einzuhalten.
Aber fast schien es, als missbrauchten die USA Putins vierjährige außenpolitische Abstinenz, um ihre „liberale Hegemonie", wie der amerikanische Politikwissenschaftler Steven Walt sie nannte, auszubauen: Mit dem Beschluss der NATO 2008, die früheren Sowjetrepubliken Georgien und Ukraine zu Beitrittskandidaten zu erklären. Oder mit der westlichen Unterstützung für den arabischen Frühling ab 2010, der auch traditionell russlandnahe Autokraten arg in Not brachte. Aus heutiger Sicht hat man damit weder der Ukraine, Georgien oder Arabien wirklich geholfen. Aber dass libysche Rebellen 2011 mit Feuerschutz der NATO-Luftwaffe Muammar alGaddafi totschlugen, nahm Putin sehr persönlich. Es folgten die gescheiterten Moskauer Massenproteste
im Winter 2011 und 2012, die sich auch gegen Putins Rückkehr als Präsident richteten. Und 2013/2014 die proeuropäische Kiewer Maidan-Revolution, im Kreml beschimpfte man EU und USA als drahtziehende Autoren beider Bewegungen.
Diesmal zu Unrecht, aber Putin konterte den Maidan prompt, annektierte die Krim und organisierte im Donbass eine prorussische Rebellion. Seit 2014 sah Russland sich endgültig im hybriden Krieg mit dem Westen. Nicht zuletzt aufgrund westlicher Unklugheiten. Auch amerikanische Experten konstatieren, dass die USA das postsowjetische Russland jahrzehntelang weder richtig wahr- noch ernst genommen hat. Aber das Gefühl Putins und seiner Umgebung, existenziell bedroht zu sein, nährte sich auch aus eigenen postsowjetischen Komplexen. Zu Putins Lieblingsgeschichten gehört seit seinem Amtsantritt die riesige, in die Enge getriebene Ratte, die zum
Angriff übergeht. Vielleicht hätte es eher Psychotherapeuten als Diplomaten gebraucht.
Noch gab es gemeinsame Projekte, so den 2018 gestarteten Bau der russischen-deutschen Nord Stream 2-Gasleitung. Aber wie die sich häufenden Sozialnetzkampagnen oder Hackerangriffe gegen führende demokratische Parteien bei US- oder EU-Wahlen stellte Nord Stream 2 statt Partnerschaft eher offensive Geopolitik dar: Um die Ukraine als Gastransportland auszuschalten, auch um die Eliten in Berlin, Wien oder Rom zu verschrödern, also zu korrumpieren. Moskau forderte dann im Dezember 2021 ultimativ den Rückzug aller NATO-Truppen hinter die Oder-Neiße-Linie und der US-Atomstreitkräfte aus ganz Europa. „Unerfüllbare Forderungen“, kommentierte damals auch Sergei Lukjanow, kremlnaher Experte für internationale Politik. Jetzt, das war klar, wollte Putin Krieg.