Gränzbote

Geschichte der verpassten Chancen

Westen hat diplomatis­che Annäherung­en an Russland jahrzehnte­lang vernachläs­sigt

- Von Stefan Scholl

- Eine wenig originelle Weisheit Wladimir Putins lautet: „Wenn die Prügelei unvermeidb­ar ist, musst du als erster zuschlagen.“Den Satz münzte er 2015 auf Russlands Syrien-Interventi­on. Aber jetzt streiten die Experten, ab welchem Zeitpunkt der Kremlchef auch seinen Feldzug in der Ukraine für unvermeidb­ar hielt. Ab wann war keine Verhandlun­gslösung mehr möglich? Und hat die Diplomatie Chancen verpasst?

Das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen gilt schon seit Putins Wutrede auf der Münchner Sicherheit­skonferenz 2007 als verkorkst, als er den USA vorwarf, die Welt allein dominieren zu wollen. Aber auf dem Kriegspfad war er noch nicht, ein Jahr später trat er gemäß Verfassung zurück und überließ seinem Gefolgsman­n Dmitri Medwedew für eine Amtsperiod­e die Präsidents­chaft, ein klares Signal, dass er nach wie vor bereit war, rechtsstaa­tliche Spielregel­n einzuhalte­n.

Aber fast schien es, als missbrauch­ten die USA Putins vierjährig­e außenpolit­ische Abstinenz, um ihre „liberale Hegemonie", wie der amerikanis­che Politikwis­senschaftl­er Steven Walt sie nannte, auszubauen: Mit dem Beschluss der NATO 2008, die früheren Sowjetrepu­bliken Georgien und Ukraine zu Beitrittsk­andidaten zu erklären. Oder mit der westlichen Unterstütz­ung für den arabischen Frühling ab 2010, der auch traditione­ll russlandna­he Autokraten arg in Not brachte. Aus heutiger Sicht hat man damit weder der Ukraine, Georgien oder Arabien wirklich geholfen. Aber dass libysche Rebellen 2011 mit Feuerschut­z der NATO-Luftwaffe Muammar alGaddafi totschluge­n, nahm Putin sehr persönlich. Es folgten die gescheiter­ten Moskauer Massenprot­este

im Winter 2011 und 2012, die sich auch gegen Putins Rückkehr als Präsident richteten. Und 2013/2014 die proeuropäi­sche Kiewer Maidan-Revolution, im Kreml beschimpft­e man EU und USA als drahtziehe­nde Autoren beider Bewegungen.

Diesmal zu Unrecht, aber Putin konterte den Maidan prompt, annektiert­e die Krim und organisier­te im Donbass eine prorussisc­he Rebellion. Seit 2014 sah Russland sich endgültig im hybriden Krieg mit dem Westen. Nicht zuletzt aufgrund westlicher Unklugheit­en. Auch amerikanis­che Experten konstatier­en, dass die USA das postsowjet­ische Russland jahrzehnte­lang weder richtig wahr- noch ernst genommen hat. Aber das Gefühl Putins und seiner Umgebung, existenzie­ll bedroht zu sein, nährte sich auch aus eigenen postsowjet­ischen Komplexen. Zu Putins Lieblingsg­eschichten gehört seit seinem Amtsantrit­t die riesige, in die Enge getriebene Ratte, die zum

Angriff übergeht. Vielleicht hätte es eher Psychother­apeuten als Diplomaten gebraucht.

Noch gab es gemeinsame Projekte, so den 2018 gestartete­n Bau der russischen-deutschen Nord Stream 2-Gasleitung. Aber wie die sich häufenden Sozialnetz­kampagnen oder Hackerangr­iffe gegen führende demokratis­che Parteien bei US- oder EU-Wahlen stellte Nord Stream 2 statt Partnersch­aft eher offensive Geopolitik dar: Um die Ukraine als Gastranspo­rtland auszuschal­ten, auch um die Eliten in Berlin, Wien oder Rom zu verschröde­rn, also zu korrumpier­en. Moskau forderte dann im Dezember 2021 ultimativ den Rückzug aller NATO-Truppen hinter die Oder-Neiße-Linie und der US-Atomstreit­kräfte aus ganz Europa. „Unerfüllba­re Forderunge­n“, kommentier­te damals auch Sergei Lukjanow, kremlnaher Experte für internatio­nale Politik. Jetzt, das war klar, wollte Putin Krieg.

 ?? FOTO: MATTHIAS SCHRADER/DPA ?? Der russische Präsident Wladimir Putin spricht im Jahr 2007 in München bei der Eröffnung der 43. Münchner Konferenz für Sicherheit­spolitik. Seitdem haben die westlichen Staaten viele Diplomatie-Chancen verpasst.
FOTO: MATTHIAS SCHRADER/DPA Der russische Präsident Wladimir Putin spricht im Jahr 2007 in München bei der Eröffnung der 43. Münchner Konferenz für Sicherheit­spolitik. Seitdem haben die westlichen Staaten viele Diplomatie-Chancen verpasst.

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