Als es in Zürich um die Wurst ging
Vor 500 Jahren begann in der Schweiz die Reformation – Im deutschen Südwesten standen viele dem Reformator Zwingli näher als Martin Luther
Schon am Anfang ging’s um die Wurst. Scharfe Rauchwurst, genauer gesagt. In der Fastenzeit im Jahre 1522 hatten die Reformeiferer um Huldrych Zwingli mit einem demonstrativen Wurstessen den Rat der Stadt Zürich provoziert. Der Beginn höchlich theologischer Disputationen. Zehn Monate später, am 29. Januar 1523, war der Rat weichgekocht: Vor 500 Jahren nahm er Zwinglis Reformprogramm an – der offizielle Start der dortigen Reformation.
Für die Schweiz hatte dieses Wurstessen einen ähnlich hohen Stellenwert wie der Wittenberger Thesenanschlag Martin Luthers, der bereits 1517 erfolgt war, für die evangelisch-lutherische Kirche in Deutschland. Und für die Kircheneinheit war es auch hier: das Ende.
Die Geschehnisse in Zürich strahlten zudem über die Stadt weit hinaus. Tatsächlich hatten die Zwinglianer in Oberschwaben teils mehr Anhänger als die Lutheraner. Aber die reformatorischen Prozesse in der Region verliefen von Stadt zu Stadt und auch zeitlich recht unterschiedlich – und zogen sich oft über Jahrzehnte.
Aber zurück zum Ort des Geschehens in Zürich: Das Haus des Druckers Christoph Froschauer war der Ort jener denkwürdigen religiösen Provokation. Rund ein
Dutzend Mitglieder der städtischen Oberschicht, darunter auch Geistliche, versammelten sich dort, um ostentativ gegen das geltende Fleischverbot während der Fastenzeit zu verstoßen. Verzehrt wurden dünne Scheiben von zwei gut abgelagerten, scharfen Rauchwürsten. Auch der Reformator Huldrych Zwingli (1484-1531), strenger Prediger am Großmünster, war anwesend; allerdings nahm er am Wurstessen selbst nicht teil.
Als der Rat der Stadt – wie offenkundig beabsichtigt– von der Aktion erfuhr, ordnete er umgehend eine Untersuchung an. In seiner Verteidigungsschrift erklärte der Drucker Froschauer, es gebe derzeit mächtig viel Arbeit; Erasmus von Rotterdam habe zur Frankfurter Messe eine dringende Buchlieferung bestellt, und seine Leute würden von „Mus“(Brei) allein nicht satt. Schließlich könne er nicht ständig Fisch kaufen. Zwingli seinerseits predigte im Münster über das Fasten – und der Drucker unter Druck stand nicht an, Zwinglis Text umgehend zu veröffentlichen. Spätestens diese Schrift, „Vom Erkiesen (das heißt Auswahl) und Fryheit der Spysen“, machte aus der Provokation einen öffentlichen Disput. Es sollte gar zu Schlägereien zwischen Fastenden und Fastenbrechern kommen. Das Thema war nun „gesetzt“. In Basel gab es am Palmsonntag sogar ein opulentes Spanferkelessen.
Zwingli argumentierte, dass es sogar nach katholischer Lehre Ausnahmen gebe. Bei harter Arbeit dürften Fastenvorschriften gelockert werden. Aber hatten Froschauers Drucker denn tatsächlich nur Schmacht nach Deftigem? Nein, es ging natürlich um mehr: um eine symbolische Kontrafaktur der Abendmahlsfeier; um eine Demonstration evangelischer Freiheit. „Willst du fasten, tue es; willst du lieber kein Fleisch essen, dann iss es nicht.“Privatsache! Was nicht biblisch ist, ist nicht Offenbarung, sondern bloße Tradition. Sich über die Festlegungen von Bischöfen hinwegzusetzen, war nach protestantischer Auffassung nicht Sünde, sondern vielmehr legitim, ja ein Adelsprädikat für einen freien Christenmenschen; erst recht im Kontext des damals nachwirkenden Schweizer Konflikts mit
Papst Leo X. und den ihm verbündeten Habsburgern.
Der Zürcher Rat befreite sich schließlich mit einer Flucht nach vorn aus seiner misslichen Lage: Nach einer öffentlichen Disputation
mit Zwingli – vor mehr als 200 Ratsherren, 400 Geistlichen und einer Delegation des Bischofs von Konstanz – machte sich der Rat die Argumentation des beharrlichen Theologen zu eigen und hob am 29.
Januar 1523, unter Umgehung aller bischöflichen Instanzen, die bisherigen kirchlichen Fastengebote auf. Fortan sollte nur noch gelten, was die Bibel dazu erlaube oder verbiete. Mit dieser Kehrtwende stand nun nicht mehr die unbotmäßige Neuerung, sondern alles Traditionelle unter Legitimationszwang. Ein Prozess kam in Gang. Bis Anfang 1525 folgten, durch Ratsbeschlüsse gedeckt, die Abschaffung der Heiligenverehrung, eine geordnete Beseitigung kultischer Bilder sowie zu Ostern 1525 eine Neuordnung des Gottesdienstes mit reformierter Abendmahlfeier.
Die Klöster wurden aufgehoben; Kirchengüter gelangten unter die Ägide des Rates und wurden vornehmlich dem Schulwesen zugeführt – während sich Teile der Züricher Intelligenzija zu Zwinglis Entsetzen zunehmend reformatorisch radikalisierten. 1526 wurden vier von ihnen auf gerichtliche Anordnung feierlich im Limmat ertränkt. „In ganz Europa“, so kommentiert der anglikanische Kirchenhistoriker Diarmaid MacCulloch, „begann die Reformation sich jetzt von einem Karneval des Volkes in etwas Strukturierteres, (…), aber auch Freudloseres zu verwandeln.“
All das begann in Zürich mit einer Wurst; nein, mit zwei gut abgelagerten, scharfen Rauchwürsten.