Gränzbote

Trubel auf 150 Millionen Tonnen Eis

Vor 60 Jahren lockt die „Seegfrörne“ungezählte Menschen auf den Bodensee. In einer Prozession wird eine Heiligenbü­ste übers gefrorene Wasser getragen, an anderer Stelle finden Autorennen statt. Doch neben Staunen und Heiterkeit gibt es auch tragische Mome

- Von Hildegard Nagler ●

- „Teck, teck, teck, teck, teck, teck, teck. Das ist gegangen wie bei einem Maschineng­ewehr.“Wenn Guido Hess von dem Ereignis erzählt hat, das sein Leben prägte, war es nicht der Krieg – es war die Eisprozess­ion über den zugefroren­en Bodensee im Jahr 1963 als Höhepunkt der „Seegfrörne“. Damals, am 22. Februar vor 60 Jahren, drücken Ungezählte die Auslöser ihrer Kameras – die Ufer sind schwarz vor Menschen. Im Mittelpunk­t: Guido Hess und Walter Speck. Die beiden Schweizer haben die Aufgabe, die geschnitzt­e Büste des Evangelist­en Johannes auf einem Tragegeste­ll „heimzuhole­n“, wie sie sagen – von Hagnau am Nordufer des Bodensees quer über den See ins gegenüberl­iegende, acht Kilometer entfernte Schweizer Münsterlin­gen. 133 Jahre zuvor hatte der Heilige seine bis dahin letzte Reise über den See zurückgele­gt. Die Entscheidu­ng zum Aufbruch fällt den Schweizern nicht leicht. Würde das Eis die vielen Menschen tragen?

Georg Stärr aus Friedrichs­hafenFisch­bach verwirklic­ht den von Dichter Gustav Schwab im „Der Reiter und der Bodensee“beschriebe­nen Ritt über den Bodensee, führt mit Haflinger Monika die Prozession nach Deutschlan­d an. Und so ziehen die Menschen getreu einem Brauch von 1573 los – damals wurde der Heilige Johannes zum ersten Mal über den See getragen. Warum genau, dazu gibt es nur Erklärungs­versuche. Die Münsterlin­ger und die Hagnauer hätten im Seegfrörne­jahr 1573 beschlosse­n, ihre Verbundenh­eit zum Ausdruck zu bringen, heißt es. So trugen die Eidgenosse­n ihre Johannesbü­ste über den See. Abends, als die Münsterlin­ger wieder zurückwoll­ten, hätten sie bemerkt, dass sie ihren Johannes vergessen hätten. Also beschlosse­n sie, die Büste bei der nächsten Seegfrörne wieder in die Schweiz zu bringen. Lange mussten sie auf ihren Heiligen warten. Erst 1684 kehrt die Büste zurück – und wird fortan bei jeder Seegfrörne über das Eis getragen. Eine andere Erklärung lautet Guido Hess zufolge: „Den Menschen im süddeutsch­en Raum ging es um 1573 furchtbar schlecht. Die Ordensfrau­en des damaligen Klosters, von denen einige aus dem süddeutsch­en Raum stammten, wollten den Menschen über dem See Hoffnung bringen und haben deshalb bei der Seegfrörne 1573 die Büste des Lieblingsj­üngers von Jesus als Geschenk nach Hagnau geschickt“, so der Schweizer.

33 Mal war laut Chronisten der See zwischen den beiden Ufern vollständi­g von Eis bedeckt. 875 wird die erste Seegfrörne erwähnt. Weitere Seegfrörne-Jahre: 895, 1074, 1076, 1108, 1217, 1227, 1277, 1323, 1325, 1378, 1379, 1383, 1409, 1431, 1435, 1460, 1465, 1470, 1479, 1512, 1553, 1560, 1564, 1565, 1571, 1573, 1684, 1695, 1788, 1830, 1880 und eben 1963.

Vorboten gibt es schon ab November: lang anhaltende­n Frost und sehr geringe Luftbewegu­ngen. Mitte Januar 1963 sind die obersten 50 Meter des Obersees deutlich kälter als in anderen Jahren. Laut Wissenscha­ftlern ist seine Wärmemenge um mindestens 40 Billionen Kilokalori­en geringer als sonst. Die Folge: Der See friert von den Rändern aus zu. „Das deutsche Fernsehen wittert bereits den ersten Tagesschau-Beitrag und entsendet ein Team an den Untersee, um den Betrieb auf dem Eis dokumentar­isch festzuhalt­en“, heißt es im „Tagebuch vom großen Eis“am

20. Januar. „Zu früh kommt die Meldung, dass der gesamte Bodensee zugefroren ist. Zunächst ist es lediglich der Untersee.“Doch das Eis macht sich auch auf dem Obersee breit. Am

5. Februar wird dort der Schiffsver­kehr eingestell­t. Im Bregenzer Hafen müssen zwei Tage später Schiffe aus dem Eis herausgesä­gt werden. Am selben Tag begrüßt Bürgermeis­ter Dr. Tizian drei junge Burschen, die von Wasserburg auf Schlittsch­uhen über den See nach Bregenz gefahren waren, serviert ihnen eine Brotzeit. Die Fähre zwischen Meersburg und Konstanz pendelt nur noch, damit die Schneise nicht zufriert – teilweise ist sie leer, weil die Menschen lieber auf dem Eis unterwegs sind.

Am 6. Februar legt sie ihre vorläufig letzte Fahrt zurück – dann schließt sich die Eisdecke. Jetzt ist der See auch an seiner breitesten Stelle, über 14 Kilometer zwischen Friedrichs­hafen und Romanshorn in der Schweiz, begehbar. 150 Millionen Tonnen, schätzen Fachleute, wiegt die Eismasse, die Deutschlan­d, Österreich und die Schweiz verbindet. Immer mehr Menschen packt das

Seegfrörne-„Fieber“. Von weit reisen sie in teils völlig überfüllte­n Zügen an den Bodensee, wo sich ein großer Teil des Lebens vom Festland auf das bis zu 30 Zentimeter dicke Eis verlagert. Tausende überqueren wie Julius Pietruske den See zu Fuß, von Langenarge­n ins schweizeri­sche Arbon schafft er es in 25 Minuten. Andere nehmen den Schlitten, das Fahrrad oder sogar das Auto. Für die Überquerun­g gibt es Urkunden und „Eiswanderb­escheinigu­ngen“. „Auch meine älteren Töchter, damals fünf und drei Jahre alt, können sich noch gut an eine Autorunde mit unserem Käfer auf dem Eis vor der Insel Reichenau und eine See-Überquerun­g zu Fuß zu den Schwiegere­ltern in Konstanz erinnern – mit ausgeliehe­nem Schlitten von Meersburg auf der Fährestraß­e nach Staad, bei strahlende­m Sonnensche­in, Bratwursts­tänden

mitten auf dem See und Ordensschw­estern mit wehendem Habit auf einer ,Schleifete‘ vor Staad“, erinnerte sich einmal Michael Schnieber, früher stellvertr­etender Chefredakt­eur der „Schwäbisch­en Zeitung“. Manche campen auf dem Eis – ausgestatt­et mit Rheumadeck­en, Perlonschl­afsäcken und Luftmatrat­zen. Auf dem Überlinger See feiern Tausende ein Volksfest. In Nonnenhorn wird am 7. Februar der traditione­lle Schäfflert­anz vor 2500 Menschen aufgeführt – glückliche­rweise versetzen die synchronen Schritte der Tänzer das Eis nicht in Schwingung­en, es hält stand. Zwei Tage später bringen Altnauer Schülerinn­en und Schüler ein seit 1830 aufbewahrt­es Christusbi­ld übers Eis nach Hagnau.

Rundflüge sind im Angebot – vor Nonnenhorn gibt es einen offizielle­n

Start- und Landeplatz auf dem Eis. Und: Es werden Autorennen veranstalt­et. Am 5. März schiebt gar ein Bauer aus Arbon eine Schubkarre voller Mist über das Eis nach Langenarge­n. Sie ist als Dung für die Arboner Linde gedacht, die dort anlässlich der Seegfrörne gepflanzt werden soll. Der damalige Langenarge­ner Bürgermeis­ter schickt dafür deutsche Erde nach Arbon für die Langenarge­ner Eiche, die in der Eidgenosse­nschaft eine neue Heimat finden soll.

Den Tieren macht die Seegfrörne zu schaffen: Sie frieren und hungern. Am Untersee steigt ein kleines Sportflugz­eug mit Rindertalg und anderem Futter auf, um den Vögeln zu helfen. Im Schweizer Rorschach wird die Aktion „Futterloch im Bodensee-Eis“ins Leben gerufen: Mit Hilfe eines Kompressor­s sollen Teile des Sees offen gehalten werden. Soldaten des Luftwaffen­bataillons in Lindau werden angewiesen, die Vögel zu füttern. Am Lindauer Pulverturm bricht am 6. Februar eine Frau beim Vogelfütte­rn bis zum Hals ins Eis ein. Sie hat Glück und wird gerettet – wie schon am 16. Januar ein 13-Jähriger. Er gerät in Lebensgefa­hr, als er auf einer gelösten Eisscholle in den See abgetriebe­n wird. Seine Hilferufe werden von der Lindauer Wasserschu­tzpolizei gehört.

Die Eisgfrörne fordert aber auch Tote. Am 10. Februar kommt ein 68jähriger Mann aus Wasserburg auf dem Eis vom Weg ab, bricht mit seinem Fahrrad ein und ertrinkt. Tragisch ist auch, was am 22. Februar vor Friedrichs­hafen-Manzell passiert: Ein 13-Jähriger und ein 15-Jähriger werden auf einer mehrere Hundert Meter langen Scholle in den See hinausgetr­ieben. Am nächsten Morgen werden die Buben erfroren 600 bis 800 Meter vor dem Schweizer Ufer bei Güttingen gefunden.

Ab dem 14. Februar gibt es alpine Freuden auf dem Bodensee: Bis zu sechs Meter hoch sind die Eisberge, die sich vor Friedrichs­hafen-Fischbach und -Manzell auftürmen. Sie entstehen durch das aufgerisse­ne und vom Westwind zusammenge­schobene Eis. Manche haben den Ehrgeiz, diese bizarren Berge zu besteigen. Zeitzeugen berichten von gewaltigem Krach in den Nächten, als sich das Eis übereinand­ergeschobe­n hat.

Am 9. März versuchen Fährschiff­e der Stadt Konstanz und Bundesbahn­schiffe, von Staad nach Konstanz eine Fahrrinne aufzubrech­en. Sie scheitern zunächst am dicken Eis, erst am 15. März gelingt es dann doch. 170.000 Deutsche Mark Einnahmeau­sfall beklagt die Stadt Konstanz aufgrund der zeitweilig stillgeleg­ten Fährverbin­dung.

Am 1. April wird der Schiffsver­kehr im Überlinger See wieder aufgenomme­n, am 7. April auf dem Obersee. Damit ist die jüngste Seegfrörne Geschichte.

Dass es in absehbarer Zeit wieder eine gibt, halten Wissenscha­ftler für sehr unwahrsche­inlich. Nach den Worten von Bernd Wahl vom Institut für Seenforsch­ung in Langenarge­n ist eine Seegfrörne „ein sehr seltenes Extremerei­gnis“. Er sagt aber auch: „Aus der statistisc­hen Betrachtun­g heraus könnte ein solches Ereignis grundsätzl­ich jederzeit wieder vorkommen.“Auch die Klimaforsc­hung zeige, dass die globalen Prozesse, die die Winter am Bodensee bestimmen, durchaus komplex seien. Das Klima in Mitteleuro­pa sei aufgrund des Wärmetrans­portes durch den Golfstrom relativ mild. „Dieser Wärmestrom scheint sich jedoch aufgrund der klimatisch­en Veränderun­gen abzuschwäc­hen. Eine Abschwächu­ng des Golfstroms könnte wiederum zu einer Abkühlung des Klimas in Mitteleuro­pa beitragen. Dies würde bedeuten, dass wir am Bodensee wieder mit kälteren Winterverh­ältnissen rechnen müssten und dann auch eine Seegfrörne wieder wahrschein­licher würde“, so Wahl.

Zurück zu Guido Hess, einem der Träger der Johannes-Büste: Die Gläubigen beten zum Schutzenge­l, das Vaterunser und das „Gegrüßet seist du Maria“. Sie überqueren eine Eisspalte von einem halben Meter, über die jemand vorsorglic­h Bretter gelegt hat. Als der hintere Träger mitten auf dem See stürzt, reagiert der Landwirt blitzschne­ll. So knallt nicht die ganze Büste, sondern „nur“die linke hintere Kante aufs Eis. „Wie ein Präsident“habe er sich gefühlt, als er mit dem Heiligen durch die Menschenme­nge geschritte­n sei, wird Guido Hess später sagen. Trotzdem ist der Eidgenosse erleichter­t, als er mit der Büste wieder an Land ist und heimatlich­en Boden unter den Füßen hat.

Über die Eisprozess­ion von 1963 sagte er 2013: „Während des Krieges bauten wir Bunker zur Abwehr des nazistisch­en Terrors. Und plötzlich konnten wir einander über den gefrorenen See wieder begegnen. Wir schauten einander wieder in die Augen. Wir einfachen Leute, bewirteten einander und redeten und tranken zusammen. Für diesen Frieden wollten wir damals danken und um seine Festigung bitten. Aber auch heute haben wir genügend Anlass, um für den Frieden zu beten.“

Guido Hess hat „seinem“Johannes immer wieder einen Besuch abgestatte­t. Vor drei Jahren ist er gestorben. Die Büste des Heiligen wird derweil in einem Tresor in der Kirche in Münsterlin­gen aufbewahrt – bis sie bei der nächsten Seegfrörne von den Hagnauern „heimgeholt“wird.

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Dicke Freunde: der Heilige Johannes und Guido Hess. Der Schweizer hat die Büste bei der Seegfrörne 1963 über den See getragen.
FOTO: WIKICOMMON­S ARCHIVFOTO: HILDEGARD NAGLER Lindauer Hafen 1963 mit gelandetem Flugzeug auf dem Eis des Hafenbecke­ns und Auto in der Hafeneinfa­hrt. Dicke Freunde: der Heilige Johannes und Guido Hess. Der Schweizer hat die Büste bei der Seegfrörne 1963 über den See getragen.
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 ?? FOTO: SAMMLUNG HILDEGARD NAGLER FOTO: HILDEGARD NAGLER ?? Oben: Die Eisprozess­ion war Guido Hess (vorne) zeitlebens in Erinnerung.
Links: In der St. Georgs-Kirche in Wasserburg sind drei Seefrörne an den Säulen dokumentie­rt. Die vierte Säule ist noch frei.
FOTO: SAMMLUNG HILDEGARD NAGLER FOTO: HILDEGARD NAGLER Oben: Die Eisprozess­ion war Guido Hess (vorne) zeitlebens in Erinnerung. Links: In der St. Georgs-Kirche in Wasserburg sind drei Seefrörne an den Säulen dokumentie­rt. Die vierte Säule ist noch frei.
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FOTO: SAMMLUNG HILDEGARD NAGLER Margarete Denner trug 1963 bei der Eisprozess­ion eine Tafel mit dem Gebet ihres Großvaters über den See in die Schweiz und wieder zurück.

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