„Der Umgang mit Musik verändert die Kinder“
Sänger Philippe Jaroussky zu seinem neuen Album, seiner kostenlosen Musikakademie für Mädchen und Jungen und warum Musik uns zu besseren Menschen macht
Philippe Jaroussky (Foto: PR) gehört als Countertenor zu den bekanntesten Klassikstars. Nun hat der 44-jährige Franzose zum ersten Mal ein Album mit französischer Barockmusik aufgenommen. Die „Schwäbische Zeitung“sprach mit ihm über sein Karriereende als Sänger, Klavierspielen im Lockdown und seine Musikakademie, die kostenlosen Musikunterricht für Kinder anbietet.
Herr Jaroussky, mit Christina Pluhar und ihrem Ensemble L’Arpeggiata arbeiten Sie seit 20 Jahren zusammen. Jetzt haben Sie mit ihr erstmals eine Solo-CD mit französischer Musik aus dem frühen 17. Jahrhundert aufgenommen. Warum dieses Projekt?
Ich wollte mit Christina etwas auf Französisch singen. Ich selbst habe noch nie französische Barockmusik aufgenommen, weil es in der französischen Barockoper nichts für Countertenor zu singen gibt. Für Christina ist es die erste Aufnahme mit französischem Repertoire überhaupt, obwohl sie seit über 20 Jahren in Paris lebt. Dieses Projekt mit dem Air de cour, den Liedern am französischen Hof, ist wirklich ein Herzenswunsch von mir, den ich mir noch erfüllen möchte, bevor ich mit dem Singen aufhöre. Es gibt auch Lieder auf Spanisch und auf Italienisch – die französische Barockmusik in jener Zeit war viel europäischer, als man sich das vorstellt.
Wann hören Sie denn auf mit dem Singen?
In den nächsten fünf bis zehn Jahren werde ich schon noch einige Projekte als Sänger machen, aber ich habe auch große Freude am Dirigieren. Vor ein paar Monaten habe ich in Paris meine erste Oper, Händels „Giulio Cesare in Egitto“, dirigiert. Im Juni werde ich „Orfeo“von Antonio Sartorio in Montpellier leiten. Sicherlich höre ich nicht von heute auf morgen mit dem Singen auf, sondern ich ziehe mich in vielen kleinen Schritten als Sänger von der Konzertbühne zurück. Das Kastratenrepertoire des 18. Jahrhunderts lasse ich jetzt schon hinter mir, aber mit der Musik von Johann Sebastian Bach beispielsweise werde ich mich als Countertenor noch weiter beschäftigen. Insgesamt wird mein Repertoire weniger virtuos werden, dafür spiritueller.
Am französischen Hof sorgte die Musik für Zerstreuung in einer politisch sehr unruhigen Zeit. Was bedeutet Musik für Sie?
Ich kann mir ein Leben ohne Musik nicht vorstellen. Seit ich zehn Jahre alt bin, begleitet mich die klassische Musik. Während des Lockdowns habe ich viel Klavier gespielt und auch meine Geige wieder herausgeholt. So war ich nie allein. Ich habe mit Beethoven gesprochen und mit Schubert, mit Debussy und Ravel. Musik ist ein ganz wichtiger Partner in meinem Leben – und manches Mal auch eine Droge. Dann muss ich mich zwingen, damit aufzuhören. Ich verbinde auch persönliche Gefühle mit einer bestimmten Musik.
Im Jahr 2017 haben Sie in Boulogne-Billancourt auf der Seine-Insel Île Seguin eine Musikakademie gegründet. Sie fördern dort junge Talente auf dem Weg zu einer Musikkarriere, aber geben auch vielen Kindern ohne musikalische Vorbildung kostenlosen Musikunterricht
und stellen ihnen ein Instrument zur Verfügung. Möchten Sie mit Musik die Welt verändern?
Die Welt verändern vielleicht nicht, aber ich möchte ehrlich zu mir sein. In Interviews höre ich immer wieder, dass klassische Musik für eine Elite sei und dass man den Zugang dazu erleichtern und demokratisieren müsse. Aber es passiert nichts! Auch ich singe ja in den großen Konzertsälen wie der Berliner Philharmonie oder dem Concertgebouw Amsterdam vor einem klassikaffinen Publikum, das sich die Eintrittskarten leisten kann. Wissen Sie – meine Eltern sind keine Musiker. Mein Musiklehrer hat sie davon überzeugt, dass ich ein Instrument lernen soll, worüber ich sehr dankbar bin. Mit der Musikakademie möchte ich etwas zurückgeben und dafür sorgen, dass Musik das Leben von Kindern bereichert.
Wie sieht der Unterricht für Sieben- bis Zwölfjährigen aus? die
Wir bieten als Fächer Violine, Violoncello, Klavier und Gesang an. Das Programm geht über drei Jahre mit zwei Stunden Unterricht pro Woche. Wir dachten, dass die Mehrheit der Kinder früher aufhört, aber da haben wir uns getäuscht. Rund 80 Prozent bleiben bis zum Ende dabei. Die meisten von ihnen werden keine Profimusiker, aber der Umgang mit Musik verändert sie. Und sie werden vielleicht das Konzertpublikum von morgen.
Und wie fördert die Akademie die 18- bis 30-jährigen Talente?
Die Situation ist für junge Profimusiker in Frankreich sehr schwierig geworden: der erste Vertrag an einem Opernhaus, der Kontakt zu einer Agentur. Viele Hochbegabte schaffen den Sprung in den Musikbetrieb nicht und können von ihrer Kunst nicht leben. Wir unterstützen diese Talente durch professionelles Coaching, aber auch mit vielen Konzerten, die wir mit ihnen veranstalten. Für mich ist es auch spannend, mit der jungen Generation in Kontakt zu sein. Ich liebe es zu unterrichten. Alles, was ich weiß, habe ich durch Lehrer vermittelt bekommen. Für mich ist es schön, selbst etwas davon weitergeben zu können.
Wie sind Sie in den Unterricht eingebunden?
Die Kinder unterrichte ich nicht – dafür haben wir 15 andere Lehrerinnen und Lehrer. Ich gebe Masterclasses und wähle jedes Jahr fünf Sängerinnen und Sänger aus, mit denen ich drei Wochen über das Jahr verteilt arbeite. Da kann man immer eine enorme Entwicklung spüren.
In Deutschland gibt es zu wenige Musiklehrer an den Schulen. Musikunterricht fällt immer wieder aus und hat meist keinen hohen Stellenwert innerhalb des Lehrplans. Viele Kinder kommen an der Schule kaum in Berührung mit Musik. Wie ist die Situation in Frankreich?
In Frankreich hat sich die Situation wesentlich verbessert. Lange Zeit galt dort Sport in der Schule als das beste Fach, um Kinder zu integrieren. In den letzten fünf Jahren ist die Musik zurückgekommen. Musik gilt in der Schule als sehr geeignet, um Kindern einen sozialen Aufstieg zu ermöglichen. Man hat auch festgestellt, dass sich die Kinder auch in anderen Fächern verbessern, wenn sie musikalisch gefördert werden. Wenn man ein Musikinstrument lernt, bildet man viele Fähigkeiten aus – Koordination und Konzentration werden trainiert, alle Regionen des Gehirns sind beim Musizieren gefordert. Das hilft den Kindern auch in anderen Bereichen.
Stärkt es die Persönlichkeit der Kinder, wenn sie in Ihrer Akademie auf der Bühne stehen und man gemeinsam musiziert?
Auf jeden Fall. Das fördert das Selbstvertrauen enorm. Auch die Eltern sind stolz, wenn sie ihre Kinder auf der Bühne sehen. Die meisten von ihnen waren niemals zuvor in einem klassischen Konzert. Meine Eltern haben auch durch mich die Welt der klassischen Musik kennen- und schätzen gelernt. Musik macht uns zu besseren Menschen. Hiervon bin ich überzeugt.