Vom Allgäu in den Osten
Bernhard Stengele aus Kißlegg war sein Leben lang als Schauspieler und Regisseur in ganz Deutschland tätig. Nun ist der Grüne Umweltminister in Thüringen.
- Die meisten Biografien verlaufen nicht wie geplant – die von Bernhard Stengele (59) gehört definitiv dazu. Dass er – ein Schwabe aus Kißlegg – seit 1. Februar Umweltminister in Thüringen ist, war in seiner Lebensplanung nie vorgesehen. Schließlich ist Bernhard Stengele ein politischer Spätzünder; ein Quereinsteiger, der sich noch mit Mitte 50 in die Politik wagte und erst 2017 bei den Grünen eintrat. Umso außergewöhnlicher ist es, wie schnell seine politische Karriere Fahrt aufgenommen hat. So schnell, dass der waschechte Allgäuer am Mittwoch nicht nur zum Umweltminister, sondern auch noch zum stellvertretenden Ministerpräsidenten des Bundeslandes Thüringen vereidigt wurde.
Seine Kindheit verbrachte Bernhard Stengele mit vier Geschwistern in Kißlegg, dort hatte der Vater eine kleine Schreinerei – mittlerweile ist die Firma Stengele unter Bruder Erwin zu einem der größten Arbeitgeber in Kißlegg angewachsen. Schon früh liebte Bernhard Stengele die Bühne. „Ich habe gerne in der Kirche gesungen, schon mit fünf Jahren“, erzählt er. Eine weitere Leidenschaft war der Fußball, bei der SG Kißlegg. „Ich habe das Kicken geliebt.“Er spielte den Libero, wie sein Idol Franz Beckenbauer.
Mit elf Jahren ging es für Bernhard nach Illertissen auf ein katholisches Internat. In der achten Klasse wechselte er auf das Rupert-NeßGymnasium nach Wangen. „Dort habe ich auch mein Abitur gemacht“, sagt Stengele. Am Gymnasium kam er zum ersten Mal mit der Schauspielerei in Kontakt. Dort hatte sich während seiner Zeit die Wangener Theatergruppe Kiesel formiert, die 2023 ihr 40-jähriges Bestehen feiert. Bernhard Stengele war eines der fünf Gründungsmitglieder – bis heute pflegt er gute Kontakte zu seinen Theaterfreunden.
„Da habe ich gemerkt, dass ich unbedingt etwas mit Theater machen will“, erzählt Stengele. Von Wangen ging es an die Schauspiel- und Regieschule nach Paris, von dort aus weiter ans Stadttheater Konstanz, ehe es ihn ins Saarland nach Saarbrücken zog. Am dortigen Staatstheater begann er neben seiner Schauspieltätigkeit auch mit Regiearbeiten. Während dieser Zeit Ende der 1990er Jahre, spielte Bernhard Stengele unter anderem in drei Tatort-Filmen mit. „Ich habe da morgens einen Anruf bekommen, ob ich dabei sein will. Das waren ganz gute Rollen mit etlichen Drehtagen“, erinnert sich Stengele.
2012 ereilte ihn dann der Ruf ins thüringische Altenburg. „Das war für mich nochmals eine große Herausforderung, weil ich niemals zuvor in Ostdeutschland gearbeitet hatte“, betont Stengele. „Das hat mich sehr gereizt.“Stengele baute ein Internationales Theater in Altenburg auf – auch mit Künstlern aus der Türkei und aus Burkina Faso in Westafrika. Doch im Zuge der Flüchtlingskrise 2015 wurde es für Stengele immer schwieriger in Altenburg zu arbeiten, „weil die Fremdenfeindlichkeit sprunghaft zunahm. Vor allem die westafrikanischen Künstler hatten es schwer“, berichtet er. Das Leben für dunkelhäutige Künstler sei in Altenburg kaum erträglich gewesen. „Sie wurden beschimpft und angepöbelt“, so Stengele. Auch er selbst wurde als deren Regisseur in der Öffentlichkeit immer wieder stark kritisiert.
2017 stellte er die Arbeit in Altenburg ein, ging wieder zurück ins Allgäu und arbeitete bei seinem Bruder in der Firma. Doch die Erfahrungen in Thüringen und Westafrika hatten ihn seitdem nicht mehr losgelassen. „Da habe ich gemerkt, ich muss nochmal nach Ostthüringen zurück“, sagt er, „um etwas zu verändern.“2017 trat er bei den Grünen ein. Warum die Grünen? „Internationalität, Diversität und die Klimaproblematik – das sind meine persönlichen Themen und die sind bei den Grünen am besten aufgehoben“, erklärt Stengele.
Im Jahr 2019 trat er für die Thüringer Grünen bei der Landtagswahl als Direktkandidat für den Wahlkreis Altenburger Land II an. Mit 5,6 Prozent verpasste er den Einzug in den Landtag aber klar und deutlich. „Aber das war eine wichtige Erfahrung und ich habe da viele sehr gute Leute kennengelernt“, sagt Stengele. Das Bedürfnis, etwas zu bewegen, habe sich immer stärker ausgebildet. Im Januar 2020 ergriff Stengele dann die Chance und ließ sich zum Landesvorsitzenden der Thüringer Grünen aufstellen. Er wurde gewählt und war „auf einmal ein Berufspolitiker“, so Stengele.
Dass er aber jetzt zum Minister aufsteigt – und das mitten in einer Legislaturperiode – hat aus parteiinterner Sicht einen Beigeschmack. Die bisherige Umweltministerin Thüringens Anja Siegesmund erklärte im Dezember ihren Rücktritt. „Aus privaten Gründen“, sagt Stengele. Doch auch das Justiz- und Migrationsministerium, das die Grünen in Thüringen verantworten, ist seit Anfang des Monats mit Doreen Denstädt neu besetzt – der ersten schwarzen Ministerin in Ostdeutschland.
Ihr Vorgänger Dirk Adams war jedoch nicht freiwillig zurückgetreten. „In den letzten Monaten wurde immer deutlicher, dass die Probleme anwachsen und die Kommunikation zu unserem Minister immer schwieriger wird“, erklärt Stengele. Die Grünen wollten einen klaren Schnitt und beide Ressorts neu besetzen. „Herr Adams hat unsere Einschätzung nicht geteilt und wollte nicht von sich aus zurücktreten“, so Stengele weiter. Ein einstimmiger Landesvorstandsbeschluss sowie die Zustimmung der Fraktion im Landtag hat seinen Rücktritt aber herbeigeführt. Für diesen Schritt musste vor allem Stengele als Landesvorsitzender viel Kritik einstecken. Ein Vorgeschmack auf das, was im harten politischen Tagesgeschäft noch auf ihn zukommen wird.
„Bene hat ein dickes Fell“, sagt Anette Schneider. Die heute 58-jährige Wangenerin kennt Stengele schon seit ihrer gemeinsamen Schulzeit. In der achten Klasse haben sich die beiden am Rupert-Ness-Gymnasium in Wangen kennengelernt und seitdem verbindet sie trotz der großen Entfernung eine enge Freundschaft. Stengele ist Taufpate von Anette Schneiders Sohn. Auch wenn es schwierig ist, den Kontakt zu halten, wenn man sich so selten sieht, blieb die Freundschaft der beiden immer eng. Für Stengeles politische Karriere im Thüringer Landtag sieht Schneider ihn gut gewappnet. „Er hat schon in der Schule gerne Verantwortung übernommen“, sagt sie. Zum Beispiel als Schülersprecher des Gymnasiums. „Er kann sich sehr gut in Dinge einarbeiten und reinknien. Er wird sein Ministerium gut im Griff haben“, betont Anette Schneider.
Auch Stefan Stengele (58) glaubt, dass sein Bruder in Thüringen politisch erfolgreich sein wird. „Er will immer etwas verändern und kann unheimlich gut eine Gruppe führen, das kommt noch von seinen Regiearbeiten beim Theater“, sagt er. Für ihn kommt die politische Karriere seines Bruders nur bedingt überraschend. „Bernhard war schon in seiner Kindheit
ein Frontmann, überall das Schätzle. Und er war ständig unterwegs“, erzählt Stefan. Ein Hansdampf in allen Gassen. Es habe im Nachhinein viele Anzeichen gegeben, dass Bernhard auch gut in die Politik passen würde. „Er konnte zum Beispiel Meinungen zusammenpuzzeln und auf eine Linie bringen. Das wird er brauchen, denn einfach wird es sicher nicht werden“, sagt Stefan Stengele.
Dass Bernhard Stengeles neue Aufgabe anspruchsvoll sein wird, steht außer Frage, zumal Thüringen von der einzigen Minderheitsregierung in Deutschland regiert wird. In Erfurt koalieren die Linken unter Ministerpräsident Bodo Ramelow gemeinsam mit SPD und Grünen. Doch für Rot-Rot-Grün reicht es im Landtag nicht zur Mehrheit, weswegen die Regierung bei allen parlamentarischen Beschlüssen immer auf Stimmen der Opposition – meist aus der CDU – angewiesen ist. „Das ist wahnsinnig zäh und kann einen schon mürbe machen“, betont Stengele.
Zumal er einige Themen auf seiner Agenda hat, die er in den kommenden Monaten angehen will. „Das dickste Brett ist natürlich die Energiewende“, so Stengele. Auf seinem Zettel steht vor allem der schnellere Ausbau der Windenergie und die Erneuerung des thüringischen Klimaschutzgesetzes. Kritiker in der Opposition bemängeln die fehlende politische Erfahrung Stengeles, um diese Themen anzugehen. Aber Kritik kennt er noch aus seiner Zeit beim Altenburger Theater – die Fremdenfeindlichkeit gegenüber seinen Schauspielern hat ihn geprägt.
Das Gefühl der Ostdeutschen, vernachlässigt worden zu sein, könne er als Schwabe aus dem wirtschaftsstarken Süden gut verstehen. „Es ist das Gefühl, dass die eigene Geschichte über einen wegrollt hier im Osten“, sagt Stengele. Viele Hoffnungen der Menschen hätten sich nach der Wende einfach nicht erfüllt, der Frust darüber sitze bei vielen tief. Trotzdem dürfe dieser Frust nicht in Hass und radikale Gewalt umgewälzt werden. Vor allem im ländlichen Raum; jenseits der großen Städte Erfurt, Weimar und Jena, spürten die Menschen den strukturellen Wandel. „Da veröden ganze Dörfer. Das ist natürlich ein Nährboden für fremdenfeindliche Attitüden“, erläutert Stengele.
Er selbst aber fühlt sich in Thüringen pudelwohl – gemeinsam mit seiner noch jungen Familie. „Ich bin ganz spät Vater geworden. Ich habe einen zweijährigen Sohn mit meiner Freundin“, erzählt er. Dennoch kommt er immer wieder gerne ins Allgäu zurück nach Kißlegg, hat hier noch viele Freunde und seine Familie. „Auch wenn es selten ist, komme ich immer gerne heim“, sagt er.
Selten werden seine Besuche wohl noch mindestens bis in den Herbst 2024 bleiben, denn dann ist wieder Landtagswahl in Thüringen. Stengele hat ein klares Ziel: „Für uns Grüne geht es in Thüringen immer nur um den Wiedereinzug in den Landtag. Das wollen wir wieder schaffen.“Und seine persönlichen Ziele? „Ich habe im Leben nie damit gerechnet, mal Minister zu werden. Ich habe überhaupt keine Fantasie, wo das noch hinführt“, betont er. Eine Antwort, schon ganz in der Rhetorik eines Politikers. Als Theaterspieler fällt es ihm offenbar leicht, in eine neue Rolle zu schlüpfen.
Eine Aufgabe beschäftigt ihn aber schon eine ganze Weile in Thüringen – und zwar keine politische. „Mein kultureller Auftrag ist es, die Kässpätzle im Osten populär zu machen“, sagt er und muss lachen. Für Bernhard Stengele beginnen jedenfalls herausfordernde Wochen und Monate im Thüringer Landtag – sowohl politisch wie möglicherweise auch kulinarisch.