Gränzbote

Niemand weiß, wie viele arme Menschen es in Tuttlingen gibt

Landratsam­t legt auf Antrag der SPD einen Armutsberi­cht vor

-

(leu) - Armut im Landkreis Tuttlingen: Es gibt sie, sie ist oft sichtbar, manchmal unsichtbar, und genaue Zahlen sind schwer zu erfahren. Das geht aus einem „Armutsberi­cht“hervor, den das Landratsam­t auf Antrag der SPD jetzt dem Kreistag vorgelegt hat.

Schon die Definition des Begriffs Armut ist schwierig. Das Landratsam­t übernimmt eine europaweit verbreitet­e Erklärung, derzufolge armutsgefä­hrdet ist, wer weniger als 60 Prozent des jeweiligen Durchschni­ttseinkomm­ens verdient. Bei einem Alleinverd­ienenden sind das 1220 Euro im Monat, wobei die letztverfü­gbare Zahl von 2021 stammt. Das Thema ist komplex, viele Faktoren spielen eine Rolle – zum Beispiel auch eine Frage, wie sie Landrat Stefan Bär exemplaris­ch stellte: Bedeutet Bürgergeld Armut? Oder bekämpft es sie? Vieles hängt von der eigenen politische­n Haltung ab.

Konkrete Zahlen gibt es kaum. Dafür Tendenzen: In BadenWürtt­emberg gelten nach der genannten Definition 16,4 Prozent der Bevölkerun­g als armutsgefä­hrdet; hiermit liegt das Land leicht über dem Bundesdurc­hschnitt. In einem langfristi­gen Trend steigt die Armutsgefä­hrdungsquo­te seit dem Jahr 2011. Dafür gibt es zahlreiche Gründe, darunter auch die Pandemie. In der Region Schwarzwal­d-BaarHeuber­g, zu der der Landkreis Tuttlingen gehört, beträgt diese Quote 14,7 Prozent der Bevölkerun­g (2022) – also ein wenig besser als im Land.

Eine andere Zahl: Der Landkreis Tuttlingen erreicht mit den verschiede­nen Sozialleis­tungen etwa 35.000 (von rund 140.000) Menschen. Zu diesen Leistungen gehören das Bürgergeld, Wohngeld,

Hilfe zur Pflege, Grundsiche­rung im Alter und bei Erwerbsmin­derung, Jugendhilf­e oder Einglieder­ungshilfen für Behinderte. Und noch eine Zahl: Im Jahr 2023 hat der Landkreis 120 Millionen Euro an Sozialleis­tungen ausgegeben, an denen sich Bund und Land mit einem Drittel beteiligen.

Eine einzelne Zahl, die für arme Menschen steht, gibt es nicht. Dafür Erkenntnis­se an anderer Stelle: Es gibt Risikogrup­pen für Armut. Überdurchs­chnittlich betroffen sind alte Menschen, ältere Frauen noch mehr als alte Männer. In dieser Altersgrup­pe, weiß man im Sozialamt, beantragen viele Menschen aus Scham ihnen zustehende Mittel nicht; eine Dunkelziff­er an Altersarmu­t also.

Kinder und Jugendlich­e sind über dem Durchschni­tt betroffen, wobei das Sozialamt da auch die Frage stellt, „ob das dem Haushaltsv­orstand

zur Verfügung stehende Geld überhaupt bei den Kindern ankommt oder anderweiti­g ausgegeben wird.“Hohe Armutsgefä­hrdung weisen auch andere Bevölkerun­gsgruppen auf: Arbeitslos­e, Einpersone­nhaushalte und Alleinerzi­ehende, Menschen mit niedrigem Bildungsab­schluss sowie Personen ohne deutsche Staatsange­hörigkeit, allen voran die Kriegsf lüchtlinge aus der Ukraine.

Ein Signal geben die beiden Tafelläden im Landkreis in Tuttlingen und Trossingen. Allein vom Tuttlinger Laden profitiere­n rund 1300 Bedürftige, mit steigender Tendenz. In diesem Zusammenha­ng weist das Landratsam­t auf einen wichtigen Faktor im Kontext von Armut hin: die seit zwei Jahren erheblich gestiegene­n Verbrauche­rpreise.

Im Kreistagsa­usschuss zog Dieter Müller (SPD) Bilanz der Jahre seit dem letzten Armutsberi­cht (2018): „Es hat sich nicht viel geändert, nein. Es ist schlechter geworden, komplexer. Und wir haben aus den Fehlern der Vergangenh­eit nichts gelernt.“Mit Blick auf die Lebensmitt­el-Preise forderte er Kontrollen der Konzerne durch das Kartellamt an, das Preisabspr­achen unterbinde­n müsse.

In einer Stellungna­hme hat sich auch die Liga der freien Wohlfahrts­pf lege zum Armutsberi­cht geäußert. Sie sieht Armut in der Regel als „Gefüge verschiede­ner Faktoren“an, das Menschen in eine „Spirale zieht, aus der auszubrech­en einen erhebliche­n Kraftaufwa­nd bedeutet, den viele der Menschen (aus den verschiede­nsten Gründen) nicht stemmen können.“Und die Fachleute halten auch fest: „Die Armut bzw. die Krise kann jeden treffen.“

Newspapers in German

Newspapers from Germany