Dieter Wellershoff – Der Liebeswunsch (5)
Ich nähere mich diesem Bild, das unversehens mein Bild geworden ist. Ihr Gesicht ist unversehrt, denn sie liegt auf dem Rücken. Wie festgefroren im Augenblick des Aufschlags starren mich ihre weit geöffneten Augen an, und mehr als alles andere sagen sie mir, daß nichts mehr zu ändern ist. Das Bild zerrinnt um so schneller, je mehr ich ihm abverlange. Morgen werde ich abreisen. Es war naiv, hierherzufahren, um der Wahrheit näherzukommen. Es gibt keinen Ort, wo man sie finden kann. Sie ist zerspalten und verborgen in den verschiedenen Köpfen.
Aus der Vorgeschichte einer Ehe
NVier Menschen, zwei Männer, eine Frau, sind verstrickt in ein Geflecht von Beziehungen und Gefühlen. Für eine von ihnen, Anja, endet der Reigen der Paare tragisch. Ein psychologisch präzise erzählter Roman. © 2000 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln. 400 Seiten, gebunden, 21,90 Euro ie zuvor hatte sie daran gedacht zu heiraten, nicht, weil sie es ablehnte, sondern weil sie annahm, dies sei, wie das ganze übrige normale Leben, für sie nicht vorgesehen. Sie haderte nicht damit, sie litt nicht darunter, es war ihr nicht einmal deutlich bewußt. Ihr Leben hat-
te seit langem etwas Unfühlbares und Gleitendes angenommen. Zwar war ihr nicht alles leicht gemacht worden, schon gar nicht von Kindheit an. Es gab Widerstände, Einengungen, Enttäuschungen. Doch konnte sie nie wirklich glauben, daß sie gemeint war.
Sie war neunundzwanzig Jahre alt, als sie heiratete, eine Studentin, die im vierzehnten Semester ohne Berufsziel und ohne Aussicht auf einen baldigen Abschluß Literatur und Sprachen studierte und zwischen all den jüngeren Studentinnen und Studenten, die mit ihr in den Seminaren saßen, ein wenig vereinsamt erschien. Sie hatte immer nebenher gearbeitet (als Kellnerin, Schreibkraft, Verkäuferin und in anderen Gelegenheitsjobs), denn ihre Mutter, die geschieden war und ein kleines Modegeschäft betrieb, konnte ihr kein Geld geben. Der Vater war zu einer anderen Frau gezogen, als sie vier Jahre alt war, und ihre Mutter hatte sie verpflichtet, nie mehr von ihm zu sprechen und keine Verbindung zu ihm aufzunehmen.
Statt Geld schickte ihr die Mutter gelegentlich ein Kleid aus ihrem Laden, wenn sie glaubte, ein besonderes zu haben. Am liebsten trug sie schwarze Kleider mit schwerem Silberschmuck. Ihr sehr dichtes aschblondes Haar ließ sie offen über die Schultern fallen. Ihre Augen, die als empfindlich galten, versteckte sie hinter einer dunklen Sonnenbrille. Sie war schlank, allenfalls mittelgroß, eine zarte Person, die sich bewegte wie jemand, der in seine Gedanken versunken ist und es der unbewußten Erfahrung seines Körpers überläßt, sich im Raum, in der Gegenwart zurechtzufinden. Immer war sie gleichzeitig in der Gegenwart und außerhalb von ihr.
Sie sah ganz anders aus als ihre Mutter, was noch deutlicher wurde, wenn man sie mit Jugendbildern ihrer Mutter verglich. Vermutlich sah sie ihrem Vater ähnlich, von dem es aber keine Fotos mehr gab. Ihre Angewohnheit, eine dunkle Sonnenbrille zu tragen, ließ den unteren Teil ihres Gesichtes wie entblößt erscheinen. Da war etwas Lauerndes, Witterndes um Mund und Nase herum, auch eine große Empfindsamkeit. Ihr Mund, dessen Umriß sie mit einem zarten Schattenriß zu umranden pflegte, war das unruhige Zentrum ihres Gesichtes. Ihr nervö- ses Rauchen wirkte, als beschwichtige sie ihn. Wenn sie zum ersten Mal die Sonnenbrille abnahm, sah man ihre ziemlich weit auseinanderstehenden Augen noch wie blicklos aus der schützenden Verschattung auftauchen und fühlte sich gehindert, sie unverhohlen anzusehen.
Immer gab es Männer, die sie anziehend und reizvoll fanden. Aber sie zogen sich bald zurück, wenn sie entdeckten, wie schwierig sie war. Es waren verlegene Rückzüge, die sie nicht verstand, mit denen sie aber zu rechnen begann. Einer dieser flüchtigen Bekannten sagte ihr bei seinem wütenden Abschied, daß sie gleichgültig und frigide sei. Das verletzte sie nicht. Sie sah es als einen Vorzug an, wenn es denn tatsächlich so war.
Sie war sich nicht sicher. Es mußte etwas an ihr geben, das die Phantasien der Männer weckte. Manchmal glaubte sie, daß es gerade ihre Zurückhaltung, ihre Vorsicht sei. Sobald sie den fremden Blicken auswich, blieben sie an ihr haften. Sie fühlte sich betrachtet, abgeschätzt, und in ihr regte sich ein Bedürfnis, den fremden Vorstellungen zu entsprechen. Das wurde nur offensichtlicher, wenn sie es zu verbergen versuchte. Sie verstummte, senkte den Blick, und wenn sie ihn langsam wieder hob, stand in ihrem Gesicht ein Ausdruck wehrloser Einwilli- gung, als habe sie in sich keinen Grund und also auch keine Kraft gefunden, nein zu sagen.
Doch dann verlor es sich. Sie ließ geschehen, was geschah, und nahm die Erregung der Männer aus immer größerer Entfernung wahr. Sobald sie spürte, wie sie sich mühten, sie mitzureißen, glitt sie weg in eine innere Leere.
Nicht anders erging es ihr bei Auseinandersetzungen. Sie hielt immer nur kurz stand, und die Einwände, die sie vorbrachte, klangen von vornherein wie Vorschläge, den Streit zu beenden. Heimlich verließ sie schon die Situation und führte nur mit Rücksicht auf die Gefühle des anderen noch ein kurzes Scheingefecht. Sie hatte gelernt, daß man es von ihr erwartete.
Alle Arbeiten ihrer verschiedenen Jobs erledigte sie zur Zufriedenheit ihrer Chefs. Sie war pünktlich, zuverlässig, unauffällig und freundlich. Man mußte ihr nicht lange erklären, was sie zu tun hatte, und nicht kontrollieren, ob sie es auch wirklich tat. „Ich weiß, Anja, du wirst mich nie enttäuschen“, hatte ihre Mutter gesagt.
Ihre Schwierigkeiten begannen, wenn sie abends in ihre kleine Dachwohnung kam und sich nach einem schnell zubereiteten und achtlos hinuntergeschlungenen Abendessen an ihren Schreibtisch setzte, um ihre seit langem stagnierende Magisterarbeit ein Stück voranzubringen. Die Aufgabe war ehrgeizig formuliert. Sie wollte versuchen, in den Landschaftsmetaphern und Landschaftsszenerien von drei Romanautoren unterschiedliche Geistes- und Seelenlandschaften zu erkennen. Sie hatte lange Listen der Motive zusammengestellt, kam aber nicht weiter, weil die Bedeutungen zu unbestimmt blieben und einander dauernd überlagerten. Als sie versuchte, diese Schwierigkeiten in einem Vorwort zu beschreiben, schien das auf den Nachweis hinauszulaufen, daß ihre Arbeit sinnlos sei. Kurz hatte sie das in aller Schärfe gesehen und sich am nächsten Tag wieder in Einzelheiten vergraben. Es wird schon werden, dachte sie.
Manchmal, wenn sie morgens in ihrer Dachkammer aufwachte, erschien es ihr unmöglich aufzustehen. Nur die Person, der ihre Mutter gesagt hatte: „Ich weiß, Anja, du wirst mich nie enttäuschen“, richtete sich mühsam auf.
Nicht daß sie glaubte, ihre Einsamkeit könne geheilt werden. Aber sie verstand es, damit umzugehen. Als sei sie ihre eigene Gesellschafterin, sagte sie zu sich: „Jetzt wollen wir es uns gemütlich machen.“
Einmal, als sie abends aus einem Vortrag kam, folgte ihr ein Mann.
6. Fortsetzung folgt