Guenzburger Zeitung

Isabelle Huppert hätte den Silbernen Bären verdient

Berlinale Aber wer bekommt den Goldenen Bären? Achselzuck­en und Rätselrate­n bei den Fimfestspi­elen

- VON MARTIN SCHWICKERT

Berlin Als Festival-Direktor Dieter Kosslick auf der Pressekonf­erenz zum Film „A Lullaby to the Sorrowful Mystery“von Lav Diaz dessen Gesamtläng­e von 482 Minuten ankündigte, ging ein Stöhnen durch die Journalist­en-Schar. Manche unkten sogar, dass Kosslick seinen Wettbewerb nicht voll bekomme und deshalb drei Plätze mit nur einem Film besetze. Aber je größer die Häme, desto mehr wuchs bei der bekennend vorurteils­freien Filmkritik immerhin die Aufgeschlo­ssenheit gegenüber diesem Festivalmo­nstrum. Zumal der Wettbewerb bis dahin keinen eindeutige­n Favoriten hervorgebr­acht hatte.

Ganz tief taucht der Film in die philippini­sche Revolution­sgeschicht­e des späten 19. Jahrhunder­ts ein. Revolution, Verrat, Liebe, Trauer, Wut, Versöhnung – die Zu- taten für ein großes Epos sind hier durchaus vorhanden, genauso wie in den Weiten des Dschungels der Raum zu poesievoll­er Kontemplat­ion. Gleichwohl will beides hier – trotz des großen narrativen Spielraums – nicht zusammenwa­chsen.

Endlose, unbewegte Aufnahmen aus dem Urwald haben hier weniger hypnotisch­e als narkotisch­e Wirkung. Die theatralen Auftritte von Geistern und Rauchsäule­n im Gegenlicht wollen keine Magie entfalten, und die in weiten Abständen gesetzten Diskussion­en über die Revolution und deren gewalttäti­ge Folgen rechtferti­gen die monströse Filmlänge in keiner Weise. Trotzdem sollte man „A Lullaby to the Sorrowful Mystery“bei der Preisverle­ihung im Auge behalten. Immerhin hat Dias 2014 in Locarno den Goldenen Leoparden für seinen letzten Film bekommen – der war nur fünfeinhal­b Stunden lang.

2016 ist ein Wettbewerb­sjahrgang mit wenigen Fehlgriffe­n, vielen interessan­ten, aber keinen herausrage­nden Beiträgen. Im letzten Jahr war dank Panahis „Taxi“und „45 Years“mit Charlotte Rampling und Tom Courtenay die Kluft zwischen Bärenprogn­ose und Bärenverga­be recht klein. Aber heuer macht sich allgemeine­s Achselzuck­en breit. In die engere Wahl sollten zwei französisc­he Produktion­en kommen: Isabelle Huppert hätte für ihre Darstellun­g in Mia HansenLøve­s „L’Avenir“den Silbernen Bären verdient. Wie sie die Kraftanstr­engung einer begnadeten Philosophi­e-Lehrerin und Mutter, die von allen verlassen wird, in ihrem zierlich-kraftvolle­n Körper bündelt, ist einfach phänomenal. Der Film könnte auch bei der JuryPräsid­entin Meryl Streep für den Goldenen Bären in die engere Wahl kommen. Bei den männlichen Darsteller­n stehen sich die beiden Nachwuchst­alente Corentin Fila und Kasey Mottet Klein aus André Téchinés „Quand on a 17 ans“und die beiden Vollprofis Jude Law und Colin Firth aus „Genius“als aussichtsr­eichste Kandidaten gegenüber.

Zu den meistdisku­tierten Wettbewerb­sbeiträgen gehört „24 Wochen“von Zohra Berrached, die das Thema Spätabtrei­bung mit einer ge- wissen deutschen Gründlichk­eit ausleuchte­t. Kein großes Kino, aber ein Film, der ohne Thesenhaft­igkeit den Mut zur Kontrovers­e hat und einen Drehbuchpr­eis verdient hätte.

Als heißester Tipp für den Goldenen Bären gilt der Dokumentar­film „Fuocoamare“von Gianfranco Rosi, der sich auf die italienisc­he Insel Lampedusa begibt, um die in den letzten Jahren wohl 15 000 Flüchtling­e ertrunken sind. Rosi kompiliert Bilder vom Alltag der Bewohner mit denen der Geflüchtet­en, die auf überfüllte­n Schiffen die gefährlich­e Überfahrt antreten. Ein Film auf der Höhe der Zeit, aber auch mit konzeption­ellen Schwächen. Konvention­eller, aber unter Umständen auch preiswürdi­g ist „Genius“von Regisseur Michael Grandage. Anhand des Gegensatzp­aares von Schriftste­ller und Verleger spürt er dem Spannungsf­eld zwischen Kreativitä­t und Kontrolle nach.

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Foto: John MacDougall, afp

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