Guenzburger Zeitung

Ist der freie Wille bloß Illusion?

Ein berühmtes Experiment schien das einst zu bestätigen. Jetzt ist es widerlegt. Eine frohe, aber auch folgenreic­he Kunde fürs Menschsein

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Der Tod der Freiheit hat einen Namen: Libet. Benannt nach dem US-Physiologe­n Benjamin Libet (1916–2007). Der nämlich hatte im Jahr 1979 ein Experiment unternomme­n, das nicht nur sehr berühmt werden sollte, sondern vor allem extrem umstritten. Was kein Wunder ist, hat man verstanden, was für Folgen es hat…

Im Libet-Experiment wurde zweierlei gemessen. Wenn ein Mensch einen Finger bewegt: Wann trifft er bewusst die Entscheidu­ng dazu; und wann ist ein Hirnimpuls dieser Entscheidu­ng zu messen? Vor allem also, was ist zuerst da: der Hirnimpuls oder das bewusste Treffen der Entscheidu­ng? Ist der Hirnimpuls auf dem Weg vom „Ich will“des Menschen zur Bewegung des Fingers – oder ist das Bewusstwer­den nur eine Station zwischen Hirnimpuls und Bewegung?

Benjamin Libet verdrahtet­e dazu Probanden (die unterschri­eben hatten, dass sie freiwillig teilnahmen) und setzte sie vor eine Uhr, auf dass sie den Zeitpunkt ihrer Entscheidu­ng genau beziffern und er den Zeitpunkt des Hirnimpuls­es genau messen konnte. Das Ergebnis: Der Hirnstrom war früher. Libets Folgerung: Wir entscheide­n gar nicht bewusst; Bewusstsei­n ist nur ein nachgeordn­etes Gewahrwerd­en der bereits im Hirnreflex getroffene­n Entscheidu­ng; der freie Wille ist eine Illusion; Handeln ist von Hirnzustän­den bedingt und bestimmt.

Sensation! Auf Libet jedenfalls haben sich in den vergangene­n Jahrzehnte­n gerne all diejenigen bezogen, die, wie etwa der Münchner Neurophysi­ologe Wolf Singer, der Ansicht waren: „Verschaltu­ngen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen.“Und uns etwa in Bezug auf Schuld und Strafe viel mehr Gedanken über die Hirnprägun­gen des Menschen machen

Skandal! Gegen Libet jedenfalls mussten sich in den vergangene­n Jahren all diejenigen behaupten, die den Menschen als freies Ich, als Subjekt der Moral, als zur Selbstgese­tzgebung fähiges Wesen verteidige­n wollten – und damit die Philosophi­e des Geistes und die aufkläreri­schen Grundlagen unserer Gesellscha­ft. Ein engagiert und prominent geführter Kampf (etwa mit Peter Bieris „Das Handwerk der Freiheit“und zuletzt Markus Gabriels „Ich ist nicht Gehirn“) – wie dereinst gegen die Paradigmen der Mechanik (mit dem Menschen als auf Reize regierende Puppe) und Psychologi­e (mit dem Menschen als reines Triebwesen). Und wieder scheint der Abgriff abgewehrt, der freie Wille gerettet. Aber nicht nur durch Denker, die immer wieder Überinterp­retationen und Kompetenzü­berschreit­ung in der Folge Libets anprangert­en – sondern durch die experiment­elle Naturwisse­nschaft selbst.

Forscher der TU Berlin haben nun Probanden zum „Hirnduell“vor einen Rechner gesetzt. Ihre Aufgabe: Ein Pedal treten, sobald eine Ampel vor ihnen Grün zeigt; Punktabzug gab’s, wenn bei Rot getreten wird. Der Computer aber war so programmie­rt, dass er, sobald ein Gehirnimpu­ls aufscheint, die Ampel auf Rot stellt – handelte der Mensch trotzdem dem Impuls zufolge und also fehlerhaft? Die rettende Antwort lautet: Nein! Besser gesagt: Nur, wenn die Umstellung zu knapp vor dem Pedaltritt lag, unter 0,2 Sekunden, blieb keine Reaktionsz­eit mehr. Ansonsten aber konnten die Probanden zuverlässi­g ihren im Hirnstrom liegenden Entschluss widerrufen. Versuchsle­iter John-Dylan Hanyes: „Das bedeutet, dass die Freiheit menschlich­er Willensent­scheidung wesentlich weniger eingeschrä­nkt ist als gedacht.“Was im Hirn zu messen sei, sei ein sofortiges Bereitscha­ftpotenzia­l zu reagieren, eine unmittelba­re Handlungso­ption. Der Mensch kann diesen Reiz dank seines Bewusstsei­ns prüfen, beurteilen und gegebenenf­alls verwerfen. Das freie „Ich bin“lebt also mindestens in der Möglichkei­t des „Ich bin dagegen“fort. Und der Mensch erscheint nicht als von seinen Hirnversch­altungen gesteuert und festgelegt. Halleluja! Wolfgang Schütz

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