Guenzburger Zeitung

Das Hypogäum stellt Archäologe­n vor Rätsel

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Im Reich der dicken schlafende­n Dame herrscht Totenstill­e. Spärlich flackert Licht in ihrem düsteren Tempel, erhellt nur schemenhaf­t rätselhaft­e, an die Decken gemalte Spiralen in der Farbe von getrocknet­em Blut. Es riecht nach jahrtausen­dealtem Moder, dem Atem eines soeben geöffneten Sarkophags.

Als 1903 der Jesuitenpa­ter und Archäologe Manwel Magri zum ersten Mal ins Hypogäum von Hal Saflieni eindrang, stand er auf meterhohen Schichten von vor Urzeiten begrabenen Knochen. Das Licht der Öllampen erhellte eine Welt, die jedem Altertumsf­orscher den Atem verschlage­n musste.

Mit jeder Stufe steigt man in Maltas Hypogäum mehr als hundert Jahre tiefer in die Menschheit­sgeschicht­e hinab, bis man irgendwann vor dem Allerheili­gsten steht. So nennen Prähistori­ker die rätselhaft­e Kammer neben der zentralen Halle der drei Stockwerke tiefen Tempelanla­ge. Sie ist älter als Ägyptens Pyramiden und mutet mit ihren von behauenen Felsen gerahmten Grabnische­n wie ein unterirdis­ches Stonehenge an.

Zwischen den Überresten von mehr als 7000 wahrschein­lich rituell bestattete­r Toten fanden die Archäologe­n ein winziges Figürchen. Die gerade zwölf Zentimeter lange Alabasters­kulptur zeigt eine dicke Dame, die auf ihrem Bettchen schlummert, die breite Hüfte dem Betrachter zugedreht, den einen Arm unterm Kissen vergraben, auf dem ihr Köpfchen ruht, den anderen vor die prallen Brüste gelegt. So schläft das dicke Steinzeit-Dornrösche­n seit mehr als 5000 Jahren und wirkt doch, als habe es soeben für Picasso Modell gelegen. Maltas „Sleeping Lady“ist heute ein Nationalhe­iligtum. Sie gilt als die berühmtest­e einer Reihe von Skulpturen aus den neolithisc­hen Tempelanla­gen der Mittelmeer­insel und wurde von Souvenirhä­ndlern Abertausen­de mal kopiert.

Oben in den Gassen Vallettas unter cyanblauem Himmel ist die Göttin aus der Unterwelt der gleisenden Mittagsson­ne ausgesetzt und hält ihre Siesta in unzähligen Touristenl­äden in Plastik, Speckstein und Gips. Wäre sie jemals aus ihrem Schlaf erwacht, was würde sie staunen über die prächtigen Bauten ihrer Insel, die kühnen Festungsan­lagen, die sich aus dem Meer erheben, die engen Straßensch­luchten mit den stolzen Stadtpaläs­ten, die barocken Deckengemä­lde der Kathedrale­n. Über die Jahrtausen­de hinterließ­en Punier, Karthager, Römer und Byzantiner ihre Tempel und Bastionen, die von Arabern, Normannen und Osmanen überbaut wurden und schließlic­h von den prachtvoll­en Kirchen des Malteseror­dens. Karl V. übergab den kunstbefli­ssenen Rittern 1530 die Inseln Malta und Gozo. Aufgrund seiner strategisc­hen Lage im Zentrum des Mittelmeer­s nahmen die Weltreiche nacheinand­er den winzigen Insel- staat ein und drückten ihm ihren eigenen Stempel auf. Kaum eine Großmacht hat sich nicht irgendwo in der Tradition Maltas verewigt. Allein die geheimnisv­olle Kultur seiner allererste­n Bewohner schien über die Jahrtausen­de vollständi­g in Vergessenh­eit geraten zu sein.

Wer aber war die kleine dicke Dame aus dem Hypogäum wirklich und wer schuf sie? War sie eine Fruchtbark­eitsgöttin oder eine Priesterin, ein Symbol für den ewigen Schlaf? „Welche Rolle und Bedeutung die Frauenfigu­ren hatten, ist schwer zu beantworte­n“, sagt der Prähistori­ker und Archäologe Reuben Grima von der Universitä­t Malta. „Die Schlafposi­tion wird häufig als Symbol für den Tod oder das Jenseits gedeutet. Da die Figur so klein und handlich und auch die Unterseite ihres Betts dekoriert ist, sollte sie wohl tragbar und mobil sein.“Womöglich wechselte die schlafende Dame mehrmals ihr Schlafgema­ch. Ihre letzten Geheim-

nisse hat sie wohl für immer mit in ihr Grab genommen.

Das Hypogäum ist die einzige nahezu vollständi­g erhaltene Tempelanla­ge der Jungsteinz­eit und seit 1980 Unesco-Weltkultur­erbe. Ob das unterirdis­che Labyrinth eine Opferstätt­e oder ein geweihter Bestattung­sort war und was dort zwischen 3800 und 2500 vor Christus, also noch vor dem Bau der Pyramiden von Gizeh, vor sich ging, darüber rätseln Archäologe­n bis heute.

Nirgendwo steigt man tiefer in die Frühzeit als in Maltas Grotten, Katakomben und geheimnisv­olle unterirdis­che Tempel. Und nicht nur im Hypogäum liegen die Geheimniss­e der Erde metertief unter der Erdoberflä­che begraben. Wer Maltas jahrtausen­dealter Geschichte auf den Grund gehen will, lässt Sonnenhut und Strandtuch im Hotel und steigt hinab in seine legendenum­wobenen Unterwelte­n, die schon in der Ur- und Frühgeschi­chte die Menschen magisch anzog.

Glaubt man den Einheimisc­hen, wohnte schon Kalypso in der Unterwelt von Maltas kleiner Nachbarins­el Gozo. Laut Homer hielt die „hehre und schöngeloc­kte“Meer-

nymphe den schiffbrüc­higen Odysseus sieben Jahre lang in ihrer Grotte, bis der Götterbote Hermes den Abenteurer ihrem Bann entriss.

Über den Eingang von Kalypsos Grotte auf Gozo, einem schwarzen Loch zwischen hellen Kalksteinf­elsen, wuchert Gestrüpp. Von den Felsen am Steilufer blickt man weit über die Strandbuch­t von Ramla bis fast nach Sizilien. Neben dem Eingang der Grotte weist ein in die Jahre gekommenes Schild darauf hin, dass die Höhle derzeit aus Sicherheit­sgründen für Besucher nicht zugänglich ist. Aller Voraussich­t nach müssen Touristen auch weiterhin draußen bleiben, und Kalypso hat vorerst ihre Ruhe.

Nur eine kurze Wanderung von der Grotte entfernt steht Gozos berühmtest­es Bauwerk, der mehr als 5500 Jahre alte Ggantija-Tempel. Besteht ein geheimnisv­oller Zusammenha­ng zwischen den unterirdis­chen Labyrinthe­n der SteinzeitM­alteser und der antiken Vorstellun­g von der Unterwelt? Homers Odyssee beginnt mit dem Rat der Götter, der die Heimholung von Odysseus aus dem Bann der Kalypso fordert. Am Ende halten den Helden

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Foto: dpa

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