An Frieden glaubt hier niemand mehr
Konflikt Seit zwei Jahren sollen im Osten der Ukraine die Waffen ruhen. So steht es zumindest im Abkommen. Tatsächlich aber gibt es fast jeden Tag Gefechte. Die Bewohner haben gelernt, mit dem Konflikt zu leben – und fürchten sich doch vor einer neuen Esk
„Ich habe das Gefühl, dass dieser Krieg nie enden wird.“Viktoria Petrowna „Wenn es dunkel wird, weißt du nie, ob du den Morgen noch erlebst.“Olja, die Marktfrau
Awdijiwka Dort, wo früher der Gang war, ist jetzt ein Loch. Eine Mine hat die Ziegelwand durchbrochen, die Fenster im Haus zerborsten und selbst die Einmachgläser im Vorraum zerfetzt. Doch das Wichtigste, sagt Viktoria Petrowna, ist, dass niemand verletzt wurde. Weder die Kühe, die Kaninchen oder die Ziegen, die sie im Garten hält, noch sie selbst. Als die Mine explodierte, war die Hausfrau, 48, gerade in einem anderen Stadtteil, bei ihrem Vater, den sie pflegt.
An einer Wohnstraße reihen sich Einfamilienhäuser und Gartenhütten aneinander. Fünf Kilometer sind es von hier, dem ukrainisch-kontrollierten Awdijiwka, bis nach Donezk, der Separatistenstadt auf der anderen Seite der Front. Die beschauliche Wohngegend, das „alte Awdijiwka“mit seinen bunten Gartenzäunen und kleinen Gärten, ist zu einem Brennpunkt des Konflikts geworden. Rund 200 Häuser wurden in den vergangenen zwei Wochen beschädigt. Nur wenige hundert Meter weiter ist die Frontlinie, die „promka“, wie die Industriezone heißt, wo die Konfliktparteien nur noch wenige Meter trennen und wo fast täglich geschossen wird. Zuletzt haben sich die Kämpfe auf das gesamte Stadtgebiet ausgeweitet. Auch schwere Artillerie wurde eingesetzt auf beiden Seiten der Front. Dutzende Menschen sind getötet worden, viele verletzt.
Es sind alte und frische Wunden, die das Leben in Awdijiwka prägen. Viktoria weist auf Einschusslöcher an der Fassade und Schrapnellspuren in dem türkisfarbenen Gartenzaun, die noch von alten Kämpfen stammen. Seit der Konflikt vor drei Jahren ausgebrochen ist, sind laut UN-Angaben etwa 10 000 Menschen getötet worden. Doch so schlimm wie in den Februartagen dieses Jahres war es hier noch nie, schwören die Nachbarn: Tagelang waren die Bewohner ohne Strom, Wasser und auch ohne Handynetz. Im Minutentakt habe es im „alten Awdijiwka“Einschüsse gegeben. „Es war die Hölle“, sagt eine Nachbarin bitter.
Von einem Schweigen der Waffen kann auch heute nicht die Rede sein. Immer wieder donnern Explosionen durch die Stadt, auch an diesem Donnerstag. Zwei Männer werden im Laufe des Tages von Granatsplittern verletzt. Am Freitag sterben bei Kämpfen in der Region drei ukrainische Soldaten. Binnen 24 Stunden werden zehn Soldaten verletzt, heißt es. Aber die 10000 Explosionen, die die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) zuletzt entlang der 500 Kilometer langen Frontlinie registriert hat, sind zumindest auf 700 pro Tag zurückgegangen. Genug, um die Stromleitungen zu reparieren und die „humanitäre Katastrophe“, von der Präsident Petro Poroschenko zuletzt gewarnt hat, abzuwenden.
der schweren Kämpfe war der Strom ausgefallen, der Betrieb in der Kokerei von Awdijiwka, zugleich der wichtigste Arbeitgeber, drohte zusammenzubrechen. An der Fabrik hängt zugleich die Heizversorgung der Stadt. Kurzzeitig wurde über der Stadt der Ausnahmezustand verhängt. Fridon Wekuan, stellvertretender Leiter der Stadtverwaltung, spricht sogar von einer „Blockade“: „Als es die Blockade gab, haben wir uns darauf vorbereitet, die ganze Stadt zu evakuieren.“So wurden schon Busse bereitgestellt, um die Bewohner im Notfall auf die Nachbarstädte umzusiedeln. In der Stadt selbst wurden Zelte und Feldküchen aufgestellt. Humanitäre Hilfslieferungen versorgen die Bewohner mit Lebensmitteln.
Heute, bei der Münchner Sicher- heitskonferenz, wird der UkraineKonflikt eines der Themen sein. Zuletzt war viel über die Hintergründe der aktuellen Eskalation spekuliert worden. Testen die prorussischen Separatisten, mit maßgeblicher militärischer Unterstützung aus Russland, die Grenzen unter der Ära des neuen US-Präsidenten Donald Trump aus? Oder ist es zuletzt – wie Reporter vor Ort berichtet haben – zu einer „schleichenden Offensive“der ukrainischen Armee gekommen, die immer weiter in der grauen Zone zwischen dem ukrainisch kontrollierten und dem Separatistengebiet vorgedrungen war?
Eine Frage, die auch vor Ort schwer zu beantworten ist. Fakt ist, dass die Kämpfe dieser Tage unter Vermittlung der OSZE wieder eingedämmt werden konnten. ZuminInfolge dest so weit, dass sich die Stromleitungen wieder reparieren ließen. Die meisten Bewohner sind geblieben. Nur rund 200 Kinder mussten in die Nachbarstädte evakuiert werden. Heute sind die Zelte der Hilfsorganisationen leer. Die Trupps sind ausgeschwärmt, um die Häuser zu reparieren. Doch auch sie geraten immer wieder unter Beschuss.
Es ist eine fragile Normalität, die in Awdijiwka seit den jüngsten Kämpfen eingekehrt ist. An der Berufsschule läuft der Unterricht wieder. „Silvia is in Britain for three months“, schreibt Swetlana, die Englisch-Lehrerin, an die Tafel. Grammatikstunde. An der Wand hängen Bilder der englischen Queen, gleich neben der Fahne der Ukraine und einem Fanposter des Fußballklubs Schachtar Donezk, dem Rekordmeister aus der Nachbarstadt, auf der anderen Seite der Front. Der Fußballklub ist nach Ausbruch des Konflikts in das westukrainische Lemberg geflohen.
Doch hier in Awdijiwka sind viele geblieben. Es wird geschätzt, dass noch 22000 von den ursprünglich 35000 Einwohnern in der Stadt leben. In die Englischstunde sind heute 13 der 27 Schüler gekommen. Vom Krachen der Artillerie, die immer wieder von draußen in das Klassenzimmer dröhnt, nehmen sie kaum Notiz. Die Schüler machen Scherze. Nicht wegen der Kämpfe, sondern nur wegen der ausgefallenen Heizung war die Schule zuletzt für eine Woche geschlossen. Draußen hat es minus 18 Grad, mit Anoraks und dicken Mützen sitzen die Schüler in der Klasse. Im Innenhof hacken Soldaten Brennholz, als würden sie sich schon für den nächsten Notfall rüsten.
„Natürlich hoffen wir, dass es nicht wieder so eine Eskalation gibt wie letzte Woche“, sagt Swetlana, die Lehrerin. „Wir haben schlichtweg darauf gehofft, dass die schweren Kämpfe bald wieder vorüber sein werden.“Zuletzt wurde das Nachbarhaus seiner Wohnung von Artilleriefeuer getroffen, erzählt Pascha, ein 16-jähriger Schüler. Sein Schlafzimmer erzittert jede Nacht unter dem Donnern des Beschusses. „Aber es ist trotzdem auszuhalten“, sagt er und zuckt mit den Schultern. Für den jungen Mann ist der Konflikt längst zum Alltag geworden.
Auch im Umland der Stadt hat die Wucht der jüngsten Eskalation Spuren hinterlassen: Wie Rußflecken prangen die Einschusslöcher an den sanften, verschneiten Hügeln, die den Weg vom Landesinneren nach Awdijiwka säumen, unterbrochen von breiten Fahrspuren im Schnee, wie von schwerem Militärgerät. Schwere Fahrzeuge haben tiefe Spuren in die vereisten Straßen gegraben. Vor allem mit Einbruch der Dunkelheit wird es in Awdijiwka gefährlich, das ist eines der ungeschriebenen Gesetze dieses Krieges. Besuchern wird empfohlen, die Stadt schon am frühen Nachmittag zu verlassen, um auch nicht entlang der Ausfahrtstraßen unter Beschuss zu geraten.
Die Bewohner von Awdijiwka können nicht weg. „Unser Keller ist kalt und feucht. Wenn es draußen minus 20 Grad hat, hält man es dort keine zehn Minuten aus“, sagt Swetlana, die Lehrerin. „Wenn es dunkel wird, weißt du nie, ob du den Morgen noch erlebst“, sagt Olja, eine füllige Frau um die 60, die auf dem Markt Schokolade und Konfekt verkauft. Heute werden hier die Rollläden aber schon um die Mittagszeit runtergelassen. Hunde streunen über den Markt.
An Frieden glaubt in Awdijiwka niemand mehr. Allein das Wort „Waffenruhe“klingt nach Hohn in einer Stadt, in der die Waffen seit fast drei Jahren nie geschwiegen haben. Auch in der Stadtverwaltung sind die Evakuierungspläne noch nicht gänzlich in den Schubladen verschwunden. „Nur Gott weiß, wie es weitergeht“, sagt Wekua, der stellvertretende Leiter. „Aber wir sind zumindest vorbereitet, wenn alles wieder von vorne losgeht.
Draußen, im „alten Awdijiwka“, der Siedlung mit den bunten Häuschen und Gartenzäunen, versucht Viktoria Petrowna derweil, zumindest die schlimmsten Folgen des gestrigen Beschusses zu beseitigen. Die zerborstenen Fensterscheiben sind notdürftig mit Plastikplanen überklebt. „Ich habe das Gefühl, dass dieser Krieg nie enden wird“, seufzt sie. Ihr Handy klingelt. „Hallo?“hebt sie ab. Pause. „Was soll ich sagen. Wir haben ein Loch im Haus. Aber mir geht es gut. Eigentlich ist alles so wie immer.“(n-ost)