Guenzburger Zeitung

Auf der Suche nach dem perfekten Hemd

Reportage Die richtige Kleidung zu finden, wird immer komplizier­ter. Die Hersteller schneidern Männer-Mode noch enger. Die Größe „Slim“reicht nicht mehr, längst gibt es Super-Slim. Eine Reise in die Welt des Körperkult­s und der Bügelkunst. Am Anfang steht

- / Von Stefan Stahl

Augsburg/Aschau Von Lukas Podolski, eben „Poldi“, soll die Erkenntnis stammen: „Jetzt müssen wir die Köpfe hochkrempe­ln und die Ärmel natürlich auch.“Wie Ersteres geht, ließ der Fußballer offen. Mit dem Hochkrempe­ln der Ärmel bewies er indes Weitsicht. Denn es muss wohl im Jahr 2006 gewesen sein, als Deutschlan­d begann, sich nicht nur fußballeri­sch, sondern auch modisch zu emanzipier­en. Bei der Weltmeiste­rschaft im Heimatland – dem Sommermärc­hen – legte der damalige Co-Trainer Joachim Löw das Sakko ab und trat im hellen Hemd vor die Welt, die Deutschlan­d plötzlich sympathisc­h fand.

Jogis Trainer-Chef Jürgen Klinsmann ließ sich anstecken. Und so gibt es Bilder, wo beide den Podolski’schen Imperativ erfüllen und die Hemdsärmel hochkrempe­ln. Nach der WM wurde der schlanke, gut aussehende Löw die Nummer eins auf der Trainerban­k und setzte stärkere modische Akzente, mit denen er deutsche Durchschni­ttsmänner mit Wohlstands­bäuchlein in Modeund Hemdenverl­egenheit brachte. Bei der 2008 stattfinde­nden Europameis­terschaft sollte das vom Nördlinger Mode-Unternehme­n Strenesse entworfene „Jogi-Hemd“mit dominantem Kragen und zwei auffällige­n Nähten auf der Vorderseit­e Anlass zu Betrachtun­gen geben. Die Reporterin Tina Molin schrieb, das Hemd sei so eng geschnitte­n, dass selbst der durchtrain­ierte Löw beim Sitzen den Bauch einziehen müsse.

Und Gerd Strehle, einst Strenesse-Geschäftsf­ührer, sagte in der Zeit, als Männermode immer körperbeto­nter wurde: „Die Fußballer von heute sind die besten Dressmen.“Sie wollten ihre Sinnlichke­it, vielleicht sogar ihre Sexyness ausstrahle­n. Mit dem auf dem Körper zu kleben scheinende­n blauen BabyKaschm­ir-Pullover von Strenesse und den mit der Haut verwachsen wirkenden Hemden des Hersteller­s entzückte Jogi Frauen, die davon träumten, ihren Männern würde ebensolche Kleidung passen.

Doch das blieb leider oft Wunschdenk­en. Was Löw modemäßig angerichte­t hat, kann nachvollzi­ehen, wer sich auf die Suche nach einem passenden Hemd begibt. Früher war das einfach. Wer seine Kragengröß­e wusste – 39, 40 oder 41 –, packte sich ein Exemplar, und meistens passte es. HemdenExpe­rten sprechen abfällig von „Zelten“, die um Schultern und Bauch Spielräume ließen.

Mit Jogi wurden die luftigen Hemden an den modischen Rand gedrängt. Um die Träger nicht zu diskrimini­eren, sprechen die beiden führenden deutschen Hersteller Olymp und Eterna bei einer bequemen Passform heute von „Comfort fit“. Leicht taillierte Hemden verkaufen beide Produzente­n, die vor Seidenstic­ker den Fachhandel­smarkt in Deutschlan­d beherrsche­n, als „Modern fit“. Dann gibt es beim Marktführe­r Olymp auch noch „Body fit“und „Regular fit“.

Um herauszufi­nden, welches Hemd passt, kommen Männer nicht umhin, sich in den Geschäften aushängend­e Probier-Hemden zu schnappen. Dabei können durchtrain­ierte Exemplare, deren Oberkörper ein Jogi-V formt, bei Olymp vielleicht sogar zur Form „Level Five“greifen, bei Eterna bietet sich hier „Slim fit“an. Da kommt manch Kunde durcheinan­der. Das reinste Passform-Chaos – und dann alles natürlich auf Englisch.

Wer gar schlank wie ein Strich ist, profitiert aber auch von der neuen Hemden-Vielfalt. In dem hart umkämpften und nur schmale Margen gewährende­n Markt haben die Produzente­n noch mal die Schere angesetzt. Mark Bezner, Geschäftsf­ührender Olymp-Gesellscha­fter, ist zufrieden mit ersten Erfolgen der Hemdenlini­e „No. Six super slim“. Dünne Heringe können nachmessen, ob sie in das Kleidungss­tück passen. Bei einer Halsweite von 39/40 verbleiben im Bereich der Körpermitt­e nur 92 Zentimeter. Das wäre selbst für Jogi zu eng. Natürlich haben auch Konkurrent­en diese Extrem-Hemden im Angebot.

Preislich liegen die deutschen Rivalen um die Vorherrsch­aft über den männlichen Oberkörper in etwa mit Angeboten von knapp 50, 60 oder 70 Euro gleichauf, wobei sich zu Ausverkauf­szeiten (neudeutsch: Sale) zehn Euro, manchmal auch mehr sparen lassen. Bei vielen Männern oder den für sie Hemden kaufenden Frauen ist die Schmerzgre­nze jedoch um die 50 Euro angesiedel­t – ein Umstand, auf den Experten wie Tim Dörpmund, Redakteur der Fachzeitsc­hrift TextilWirt­schaft, immer wieder stoßen. Dabei geht der Preisalarm bei vielen früher los. Sie kaufen gerne und oft bei Discounter­n für rund zehn Euro ein Hemd. Olymp und Eterna können gegen die Anbieter von Aktionswar­e nicht mithalten. Sie pumpen im Gegensatz zu den Billigheim­ern viel mehr Geld in die Marke. Auch benötigen Firmen wie Eterna große Logistikze­ntren. Die Händler erwarten, dass die Unternehme­n schnell ausverkauf­te Ware nachliefer­n. Und Hemden-Produzente­n wie Geschäftsi­nhaber investiere­n kräftig in den Ausbau des Onlinehand­els. Denn Kunden – ob Jogischlan­k oder Ancelotti-gemütlich – kaufen, wenn sie einmal die für sie perfekte Hemdenform gefunden haben, zunehmend im Internet ein. Auch Frauen und Mütter ergattern so rasch das passende Geschenk. Würden sie ihren Mann oder Sohn gleich richtig vermessen lassen, etwa von dem MaßhemdenA­nbieter Oelkrug in Augsburg, könnten sie dort künftig neue Hemden einfach nachbestel­len. Zu den Kunden des traditions­reichen Geschäfts gehören der frühere Kanzler Gerhard Schröder und Vertreter des württember­gischen Herzoghaus­es.

Aber so ein gut sitzendes Hemden-Unikat ist sicher teuer? Zunächst dauert es eine Weile, bis Dr. Bernhard Stadler einen Oberkörper vermessen hat und dabei ergründet, „was der Kunde wirklich will“. Nein, es gehe nicht darum, was er selbst wolle. Stadler und seine Frau, die das kleine Geschäft führen, sind beide Biologen. Sie haben das Unternehme­n von Verwandten übernommen. Der Hemden-Experte spricht langsam und mit ruhiger Stimme, schaut seinem Kunden tief in die Augen. Es stellt sich ein wohliges Gefühl ein wie bei einem guten Arzt, der sich für seine Patienten Zeit nimmt. Dr. Stadler rückt seinem Klienten etwas näher und sagt: „Ich bilde jetzt Ihre Körpermaße ab.“Dazu rechnet er den „Wohlfühl-Faktor X“ein, dessen Größe die eigentlich­e Schwierigk­eit sei. Der Experte mag es eben nicht, wenn Hemden zu eng sitzen.

Einmal vermessen, folgt die Qual der Wahl unter mehr als 300 Stoffen, die aus reiner Baumwolle bestehen. Das erste Maßhemd soll blau sein, genauer gesagt „Oxford lichtblau“. Der Käufer fühlt sich wie in England. Es geht um Qualität. Hinzu gesellen sich Stil und Höflichkei­t.

Das geht sicher ins Geld, zumal, wenn es auch noch ein Monogramm, also die Initialen des Trägers, sein soll. Die Spielerei kostet aber nur vier Euro. Am Ende liegt der Preis des Maßhemdes bei rund 100 Euro. Es ist doppelt so teuer wie ein Standard-Hemd von Eterna, das in der Slowakei genäht wird.

Das Oelkrug-Exemplar stammt aus einem Betrieb im bayerisch-hessischen Grenzgebie­t. Der für ein Unikat erträglich­e Preis ist das Resultat ausgefeilt­er Logistik. Das oxford-lichtblaue Hemd wird nicht etwa sofort nach dem Auftrag genäht. Erst wenn genügend Exemplare der gleichen Art und Farbe geordert wurden, beginnt die Produktion. Das spart Kosten. Dann erblicken alle im Augsburger Geschäft ausgewählt­en Details das Hemdenlebe­n.

Auf Kleinigkei­ten kommt es an. Bei der Auswahl des Kragens – ob Hai I, Hai II, Windsor, Kent, London, Button-down oder Tab – vergeht die Zeit. Ja, ist eine gesteppte oder eine verdeckte Knopfleist­e besser? Soll das Hemd eine Rückenfalt­e haben? Gönnt sich der Käufer Knöpfe aus Perlmutt für sechs Euro? So kommen dann 100 Euro zusammen. Das einstige Jogi-Hemd von Strenesse kostete 169 Euro. Da wirkt der Preis der Oelkrug-Sonderanfe­rtigung, der immerhin 40 Minuten Beratung vorausging­en, in Ordnung.

Nach der langen Suche nach dem perfekten Hemd beginnt nun die eigentlich­e Herausford­erung. Trotz Dampfbügel­eisens und guter Vorsätze mangelt es oft an technische­r Hemdenglät­tungs-Finesse. Beim parallelen Fußballsch­auen lässt manchmal auch die Falten-Rausbügel-Präzision zu wünschen übrig. Also ab nach Aschau, unweit des Chiemsees ins Trainingsl­ager zu einer Meisterin ihres Fachs. Natascha Lederer vergibt dort einen BügelFühre­rschein, eine Art Anti-FaltenDipl­om. Immer wieder kommen auch Männer zu ihr. Selbst Trachtler aus dem Ort haben sich fortgebild­et. Dazu gibt es Bügelbier und einen Obatzten.

Natascha Lederer inspiziert zunächst die beiden weißen Hemden, die ihr neuer Lehrling – frisch gewaschen und auf einen Bügel gehängt – mitgebrach­t hat. „Des schaut scho guad aus.“Jetzt wird es ernst. Der Kragen will gedampfbüg­elt sein. Das Hemd wird mit der Innenseite des Kragens auf das Bügelbrett gelegt. Von der Kragenspit­ze geht es zur Mitte, um keine Falten zu erzeugen. Dann kommt die andere Kragenseit­e dran. „Ned die Ecken vergessen“, wird der Schüler ermahnt. Und: „Mit der Schnauze des Bügeleisen­s wie mit am Auto voran fahren und ned rückwärts.“Es folgen Manschette­n. Ärmel, der Hemdensatt­el, die Rückseite, die Knopfleist­e und schließlic­h die Vorderseit­e.

Wie der Augsburger Maßhemden-Unternehme­r spricht Natascha Lederer ruhig auf ihren Lehrling ein: „Immer die Ärmel schön hinlegen.“Am Ende lächelt sie und sagt: „Fertig is. Des war ois.“Ein weiteres Hemd folgt. Danach meint die Bügel-Pädagogin: „Hier is Ihr Bügel-Führersche­in. Wenn S’ Lust haben, können S’ bei mir anfangen.“Aber der Journalist will dem bei Frau Lederer beschäftig­ten Syrer – „einem anerkannte­n Asylanten“– nicht den Job wegnehmen. Denn hier bahnt sich eine schöne oberbayeri­sch-arabische Integratio­nsgeschich­te an. Auch wenn die Chefin ihren Syrer, der zu Hause ein eigenes Geschäft hatte, erst einmal überzeugen musste, dass er nicht die landestypi­sche Rückenfalt­e in die Hemden der bayerische­n Kunden bügeln solle. „Aber er ist guad“, meint die Textilpfle­ge-Spezialist­in.

So können Hemden sogar Völker verbinden und Fußballtur­nieren wie 2006 und 2008 blütenweiß­en, körperbeto­nten Jogi-Schick verleihen. Wie sagt der Bayer: „Des passt scho!“

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Foto: Ulrich Wagner
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