Nicht überall ist Schach gut aufgestellt
Reportage Während sich der schwäbische Verbandschef um die Entwicklung keine Sorgen macht, fällt das Urteil eines Experten im Landkreis Günzburg skeptischer aus. Warum das „königliche Spiel“in der Schule viel Gutes bewirken würde
Wer auf hohe Zahlen setzen möchte, nimmt am besten vor einem Schachbrett Platz. Zwar verfügt das vor einem liegende Quadratstück lediglich über 64 Felder, das von maximal 32 Figuren bevölkert wird. Meisterliche Spieler bringen es unter diesen Voraussetzungen aber schon auf einige Millionen Stellungsmöglichkeiten. Richtig heftig wird es dann aber bei der Frage nach den insgesamt möglichen Konstellationen: Wissenschaftler rechneten nach und kamen zu der Erkenntnis: Es sind mehr als alle im ganzen Weltall vorkommenden Atome – eine Zahl mit 47 Nullen.
Schwindelig werden kann einem auch bei der im Jahr 600 vom indischen König ausgesprochenen Belohnung für den „Erfinder“des Spiels, welcher den Wunsch geäußert haben soll: Ein Weizenkorn auf das erste Feld, die doppelte Menge aufs nächste und so weiter – am Ende müssen es 540 Milliarden Tonnen gewesen sein.
Im Jahr 2017 denkt Arthur Giss über solche Legenden und Zahlenspiele weniger nach. Er spielt lieber mit großem Erfolg Schach beim Landesligisten SC Dillingen. Ohnehin lässt sich der Wertinger von solchen Zahlen nicht sonderlich beeindrucken, obwohl er im richtigen Leben als Elektrotechnik-Spezialist immer wieder damit umgehen muss. Derweil scheint der junge Mann wohl ganz andere Ziffern im Sinn zu haben, etwa „27“und „2“, die für das Lebensalter seiner Gattin Helene und Töchterchen Annika stehen, sowie die „3“, der Zahl der Monate, die Marlene jetzt auf der Welt ist. Dabei könnte die größte dieser drei Damen, der wichtigsten und stärksten Figur in diesem StrategieMatch, auch einem Top-Sportler wie Arthur Giss gefährlich werden – am Spieltisch, versteht sich: Helenes Mädchenname Nuber verrät nämlich ihre Herkunft aus dem schlauen Geschwister-Trio mit Blasius und Korbinian, das seit Jahren auf nationaler wie internationaler Ebene sehr erfolgreich am Schachbrett agiert.
Die Nubers erliegen dabei der Faszination eines der ältesten Spiele der Welt, in der heutzutage nahezu eine Dreiviertelmilliarde Menschen die Figuren ziehen. Das entspricht rund einem Zehntel der gesamten Menschheit.
Um den Nachwuchs macht sich Otto Helmschrott kaum Sorgen: „Die Vereine sind da sehr um neue Mitstreiter bemüht, und außerdem kann man Schach im Gegensatz zu anderen Sportarten bis ins hohe Alter hinein spielen, das bindet die Leute dort“, ist sich der erfahrene Brett-Stratege und Vorsitzende des Schachverbands Schwaben sicher. Was den Chef von einer Organisation mit rund 400 Mitgliedern ebenfalls optimistisch stimmt, entwickelt sich gerade an den Schulen: „Schach erlebt dort zurzeit den großen Aufwind“, freut sich der Gymnasiallehrer.
Zu einem Schachstudium wie etwa an osteuropäischen Hochschulen ist es vorerst noch ein langer Weg, Pardon: Zug. Aber Beispiele wie die Hansestadt Hamburg mit einem regulären Unterrichtsfach Schach sowie Schulversuche in Bayern mit einer Stunde pro Woche lassen hoffen. Auch im Landkreis Günzburg wird vereinzelt an Schulen Schach gespielt. Aber das ist nicht weit verbreitet, sagt der 34-jährige Florian Bühler, der zweiter Vorsitzende des Schachkreises Nordschwaben ist. Der Schachkreis umfasst die Landkreise DonauRies, Dillingen und zum Teil Günzburg und Neu-Ulm. „Mehr tun“, sagt Bühler selbstkritisch. Im Landkreis Günzburg gibt es inzwischen noch vier Vereine, die eigenständig sind, sich zusammengeschlossen haben oder eine Abteilung innerhalb eines Vereins bilden. „Vor zehn Jahren war noch mehr los, da war es besser“, sagt Bühler, der im Alter von acht Jahren mit seinem Hobby begonnen hat und für Ichenhausen aktiv ist. Im 120000-Einwohner-Kreis Günzburg sind gerade mal 130 Spieler in den Klubs gemeldet:
● SK Krumbach (Regionalliga SüdWest): 44 gemeldete Spieler, zwei Frauen in der ersten Mannschaft (Nadia und Ekatarina Jussupow). Es ist ein Verein mit langer Tradition, der ehemals in der Zweiten Liga an die Bretter ging. Die Jugendarbeit ist außerhalb der Familie Jussupow nicht sonderlich erfolgreich.
● SG Kötz/Ichenhausen (Schwabenliga II Nord): 35 gemeldete Spieler, im Verein sind ebenfalls zwei Frauen in der ersten Mannschaft (Carolin und Christina Dauer). Seit Langem werden Kinder und Jugendliche gefördert. Der Lohn sind viele schwäbische und nordschwäbische Titel.
● VfL Leipheim (Kreisliga Nordschwaben): 31 Spieler sind gemeldet, eine Frau spielt in der ersten Mannschaft (Kalina Todorova). Lange Zeit gab es keine Jugendarbeit, seit Kurzem erlebt die Abteilung einen Boom mit vielen Kindern – auch an der Schule. Erfolge gibt es auf nordschwäbischer Ebene.
SG Günzburg/Reisensburg
(A-Klasse Nordschwaben): 20 gemeldete Spieler, keine Frau. Es gibt Jugendarbeit, die Spielgemeinschaft ist aber nicht erfolgsverwöhnt. Bühler beobachtet, dass eher die Schulen von den Vereinen und deren jungen Schachspielern profitieren als umgekehrt. Dabei müssten die Schachklubs ein veritables Interesse daran haben, Schulen für ihr „königliches Spiel“zu gewinnen – und damit unter Umständen auch den Nachwuchs. „Wir müssen da definitiv mehr tun“, bemängelt er die zu geringe Aktivität von den Vereinen.
Dass Schulen auch etwas davon haben, belegt eine Studie der Universität Trier, die Gymnasiallehrer Helmschrott recht gibt. Dort wurnur den bei entsprechenden Schulversuchen „eine signifikante Verbesserung des Wahrnehmungsvermögens und der Konzentration vor allem bei den leistungsschwachen Schülern“nachgewiesen. In einer weiteren Klasse sprach man sogar von einem „signifikanten Intelligenzanstieg“. Dass Schachspieler kluge Leute sind, wusste man ja schon vorher. Dank der neuen Medien ist Experten zufolge sogar noch eine weitere Steigerung denkbar.
Ohne Rechner geht heute auch beim Kopfduell gar nichts. Damit können junge Talente in Windeseile zehntausende Partien spielen und wichtige Muster einüben. Dinge, die man sich früher mit Büchern und echten Begegnungen aneignen musste. Mancher Schachfunktionär ärgert sich über die unbegrenzt scheinenden Möglichkeiten der Technik. Denn die haben zuweilen den Nebeneffekt, dass das Training im Verein gar nicht mehr für so wichtig genommen wird, um sich auf ein Ligaspiel vorzubereiten. Partien können auch zu Hause gegen den Computer gespielt werden. Darunter leidet dann wiederum das Vereinsleben, das auch abseits der Schachbretter stattfindet.