Die Vermessung der Welt
Kunsthalle Nürnberg Eben erst 40 geworden, stellt Jorinde Voigt, die Münchner Professorin für konzeptuelles Zeichnen, ihre neuen, betörend schönen Arbeiten auf Papier aus
deutschen Nachwuchskünstlerin gekürt worden. Ein drittes Mal wird das nicht vorkommen, denn nun ist die gebürtige Frankfurterin über der Altersgrenze, nun ist sie 40.
Zeitsprung zurück. Die ersten Notationen Jorinde Voigts waren schwarz-weiß, Bleistift, Tinte. Liniensysteme, Pfeilstrukturen, serielle Schriftfolgen, in einen Bildrhythmus übertragene Gesetzmäßigkeiten, Regelwerke, Taktungen. Musik hatte die inzwischen in Berlin lebende und arbeitende Künstlerin nicht studieren wollen, obwohl sie während ihrer Schulzeit zehn Jahre lang Cello-Unterricht erhielt. Aber Musik akademisch, so analytisch dieser Schaffensprozess in der Beschreibung anmuten mag: Sein Resultat scheint oft betörend, sensibel, sinnenhaft und ikonografisch auf. Voigt: „Intellekt und Instinkt können gleichzeitig stattfinden.“
Zu Bleistift und Tinte traten das Rot hinzu, dann kolorierende Ölkreiden, später farbige Formen und Silhouetten, in den letzten Jahren, intarsiert, das äußerst heikle Gold und Silber, auch schwarz gefärbte Federn als schuppenartige Konstruktionsmittel für Raumkrümmungen, Raumverschlingungen.
Warum Edelmetall, warum Federn? Ihr Oberflächenschimmern, dieses Changieren der Licht-Reflektion unter wechselnden Betrachtungsperspektiven garantiert Jorinde Voigt eine Form von „Nichtfestlegbarkeit“. Ihre Zeichnungen, ihre Texte halten nun auch im Material Wandlung, Prozess, Performatives fest.
Überblickt man Voigts Werk aus knapp eineinhalb Jahrzehnten, so offenbart sich eine vollkommen eigene künstlerische Sprache, die sich auf hohem Niveau stetig weiterentwickelte. Gibt es Hoffnungsvolleres als genau dies? Sie selbst sagt: „Vertrauen Sie dem, was Sie sehen und wahrnehmen, das hat alles seine Richtigkeit.“Und ihren Studenten in München lehrt sie, „wie man Ausdrucksformen finden kann, die echt sind und wahr und nicht illustrativ“. Dem Betrachter hernach ist aufgegeben, die neue Sprache, die neue Ausdrucksform, das neu entworfene Universum sich zu erschließen. So, wie es Ferruccio Busoni insprechendsten direkt forderte: „Denn das weiß das Publikum nicht und mag es nicht wissen, dass, um ein Kunstwerk zu empfangen, die halbe Arbeit an demselben vom Empfänger selbst verrichtet werden muss.“
Die jüngste Werkfolge von Jorinde Voigt, deren Arbeiten bereits präsentiert wurden in Ausstellungen renommierter Museen zu Meisterzeichnungen nicht nur der Gegenwart (Dresden, Wien, Zürich), ist inspiriert durch Gustav Mahlers „Lied von der Erde“. Darin tauchen im wandfüllendem Disegno auch Untersuchungen, Umrisse ihrer eigenen Körperformen auf, dazu fließende Bildelemente, natürlich auch erneut etliche schriftliche Hinweise auf zeitliche, räumliche Einordnungen von der Momentaufnahme eines sich ausdehnenden Ereignisses. Der Zug geht nun ins Malerische.
Und da schließt sich der Kreis zu jenem Punkt, als Jorinde Voigt beschloss, nicht Musik zu studieren. Tatsächlich wurde inzwischen eines ihrer Zeichnungskapitel zu Mahlers „Lied von der Erde“in Musik umgesetzt, unter anderem 2016 in der Berliner Ausstellungshalle Hamburger Bahnhof. Neun Instrumente, neun Minuten. Eine Bildpartitur wird Komposition – ohne Spielanweisungen, ohne Hörerwartungen, doch mit zeichnerisch eingefangenen Gestimmtheiten. Bildende Kunst und Musik, zwei küssen sich.
OKunsthalle Nürnberg (Lorenzer Straße 32) bis 7. Mai. Öff nungszeiten: Di., Do. bis So. von 10 bis 18 Uhr, Mi. 10 bis 20 Uhr. Ein Katalog wird noch erscheinen.