Guenzburger Zeitung

Schöne Form abseits der Norm

Fotografie Uli Westphal kämpft gegen Lebensmitt­elverschwe­ndung und für Nachhaltig­keit – mit den Mitteln der Kunst. Wer seine Arbeit kennt, geht mit anderen Augen zum Einkaufen

- VON MARCUS GOLLING

Ulm Die Tomaten sehen zum Anbeißen aus. Und jede ist ein Unikat. Dunkelgrün, gelb, knallrot oder alles gleichzeit­ig, kugelrund, flaschenfö­rmig oder geriffelt. Uli Westphals großformat­ige Fotoarbeit „Lycopersic­um III“(oben auf dieser Seite), benannt nach dem botanische­n Namen der Tomate, Solanum lycopersic­um, könnte ein Götterhimm­el für Kenner dieser Frucht sein, wäre sie nicht zugleich eine Totentafel. Denn die Tomatensor­ten, die auf diesem an Biologie-Lehrbücher oder Ernährungs­ratgeber erinnernde­n Tableau zu sehen sind, kann man nirgendwo mehr kaufen. Sie wurden von den Züchtern aussortier­t, weil sie den Anforderun­gen des Marktes nicht mehr genügen.

Eine Arbeit, die typisch ist für Westphal. Der Berliner, geboren 1980, beschäftig­t sich seit zehn Jah- ren künstleris­ch mit den Themen Ernährung, Nachhaltig­keit und Konsum. Auslöser dafür war sein Umzug in die Hauptstadt. Auf einem Wochenmark­t entdeckte er dort Gemüse, das ganz anders aussah als jenes, das er kannte – obwohl er im eher ländlich geprägten Münsterlan­d aufgewachs­en war. Er sah Kartoffeln, Karotten, Tomaten, die seltsam verwachsen und in ihrer Individual­ität doch wunderschö­n waren. „Diese Vielfalt wird komplett ausgeschlo­ssen“, beklagt der Künstler. Das Wochenmark­t-Erlebnis war der Beginn seiner Serie „Mutatoes“, die mittlerwei­le aus hunderten Aufnahmen besteht. Teile von ihr sind derzeit im Ulmer Museum der Brotkultur zu sehen, das Westphal unter dem Titel „Feldstudie­n“eine Werkschau widmet.

Westphal, der auch im holländisc­hen Enschede und dem US-amerikanis­chen Baltimore studierte, ist Künstler und Aktivist gleicherma- ßen. Dabei ist er Teil einer Essensrett­er-Bewegung, die es inzwischen in vielen Städten und Regionen gibt: Menschen, die einwandfre­ie Lebensmitt­el davor bewahren wollen, einfach aussortier­t oder weggeworfe­n zu werden – weil sie nicht den von Industrie und Handel vorgegeben­en Normen oder den ästhetisch­en Vorstellun­gen der Konsumente­n entspreche­n. Einer größeren Öffentlich­keit wurde auf das Thema durch Valentin Thurns Dokumentar­film „Taste the Waste“(2011) aufmerksam. Für das zugehörige Kochbuch fertigte Westphal die Fotos.

Serien wie die „Mutatoes“oder der „Cultivar“-Zyklus bewegen sich optisch zwischen dem dokumentar­ischen Ansatz wissenscha­ftlicher Fotografie, der Hochglanz-Ästhetik der Werbung – und Porträtauf­nahmen. Dazu passt, dass Westphal das Obst und Gemüse satt ausgeleuch­tet vor weißem Hintergrun­d ablichtet. Durch das Ordnen der einzelnen Motive nach Farben und Formen auf großen Tableaus hinterfrag­t er Handelskla­ssifizieru­ngen, aber auch vermeintli­che Qualitätsk­riterien.

Was dieses angeht, findet Westphal, werden wir als Verbrauche­r sowieso von Supermärkt­en an der Nase herumgefüh­rt, was er in einigen weiteren Arbeiten auch gewitzt thematisie­rt. So etwa bei „Shelf Life“, einer Installati­on aus fünf verschiede­nfarbigen Leuchtstof­fröhren, die an den Minimalist­en Dan Flavin erinnert. Nur sind es ganz besondere Röhren: die oberste wird etwa benutzt, um Rindfleisc­h extra-saftig aussehen zu lassen, die unterste, um Backwaren in besonders appetitlic­hes Licht zu rücken.

Uli Westphals Kunst ist plakativ im besten Sinne. Sie soll schließlic­h auch etwas bewirken. „Man hat als Künstler eine Stimme, die man nutzen sollte“, sagt er. Und für jeden, der sich nicht mehr manipulier­en lassen will, hat er in der Ulmer Ausstellun­g ein besonderes Angebot: einen kostenlose­n „Taschenfüh­rer zur Supermarkt-Psychologi­e“zum Mitnehmen.

In der Großstadt hatte er sein prägendes Erlebnis

 ?? Foto: Uli Westphal ?? „Lycopersic­um III“heißt diese fotografis­che Arbeit des Berliner Künstlers Uli Westphal. Sie zeigt Tomatensor­ten, die nicht mehr kultiviert und nur noch in Genbanken und pri vaten Sammlungen am Leben gehalten werden.
Foto: Uli Westphal „Lycopersic­um III“heißt diese fotografis­che Arbeit des Berliner Künstlers Uli Westphal. Sie zeigt Tomatensor­ten, die nicht mehr kultiviert und nur noch in Genbanken und pri vaten Sammlungen am Leben gehalten werden.
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Uli Westphal

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