Guenzburger Zeitung

Merkel und die verpasste Grenzschli­eßung

Rekonstruk­tion Warum die Bundeskanz­lerin und der Innenminis­ter eine Woche nach der Öffnung der Grenze keine Verantwort­ung dafür übernehmen wollten, alle Flüchtling­e bei der Einreise wieder streng zu kontrollie­ren

- VON MARTIN FERBER

Berlin Alle Vorbereitu­ngen waren abgeschlos­sen. Alle Einheiten der Bundespoli­zei waren in Alarmberei­tschaft versetzt, 21 Hundertsch­aften mit Bussen aus ganz Deutschlan­d an die Grenze zu Österreich gebracht worden. Genau eine Woche, nachdem Bundeskanz­lerin Angela Merkel in einer einsamen Entscheidu­ng die deutsche Grenze für jene Flüchtling­e geöffnet hatte, die in der ungarische­n Hauptstadt Budapest gestrandet waren und dort bei großer Hitze unter unwürdigen Bedingunge­n auf der Straße lebten, sollte sie am Sonntag, 13. September 2015, um 18 Uhr wieder geschlosse­n werden.

Der 30-seitige Einsatzbef­ehl jedenfalls, den Dieter Romann, der Chef der Bundespoli­zei, verfasst hatte, ließ an Deutlichke­it nichts zu wünschen übrig: An allen Grenzüberg­ängen von Österreich nach Deutschlan­d sollten wieder strenge Personenko­ntrollen stattfinde­n, wer keinen Pass oder kein Visum hatte, sollte auch dann an der Einreise gehindert werden, wenn er um politische­s Asyl bat. Es fehlte nur noch eines – die Zustimmung der Bundesregi­erung. Ohne das Ja aus Berlin ging nichts.

Doch Romann wartete bis zum Abend des 13. September vergebens auf eine Antwort. Sowohl Bundeskanz­lerin Angela Merkel als auch sein Dienstherr, Innenminis­ter Thomas de Maizière (beide CDU), fürchteten, dass sich an der deutschöst­erreichisc­hen Grenze vor den Augen der Weltöffent­lichkeit dramatisch­e Szenen abspielen könnten und Mütter mit kleinen Kindern von deutschen Polizeibea­mten not- falls auch mit Gewalt abgewiesen würden. So beschreibt es der Journalist Robin Alexander (Welt am Sonntag) in seinem Buch „Die Getriebene­n. Merkel und die Flüchtling­spolitik“, das am Montag von FDP-Chef Christian Lindner in Berlin vorgestell­t wurde (286 Seiten, Siedler-Verlag Berlin, 19,99 ¤).

„Keiner der Beteiligte­n wollte in dieser Lage eine so rechtlich umstritten­e wie unpopuläre Entscheidu­ng treffen“, schreibt Alexander in seiner beinahe minutiösen Rekonstruk­tion der ereignisre­ichen 180 Tage zwischen der Öffnung der Grenze am 4. September 2015 und dem Schließen der Balkanrout­e durch die mazedonisc­he Regierung am 9. März 2016. „Die Grenze bleibt offen, nicht etwa, weil es Angela Merkel bewusst so entschiede­n hätte oder sonst jemand in der Bundesregi­erung. Es findet sich in der entscheide­nden Stunde schlicht niemand, der die Verantwort­ung für die Schließung übernehmen will“, schreibt Alexander, der seit 2008 die Politik der Kanzlerin aus nächster Nähe verfolgt.

FDP-Chef Christian Lindner fühlt sich nach der Lektüre des spannend geschriebe­nen InsiderRep­orts in seiner Kritik an der Bundesregi­erung bestätigt. Robin Alexander, der in Berlin, Brüssel, Wien, Budapest und in der Türkei recherchie­rt und mit etlichen Akteuren gesprochen hat, habe mit seinem Buch die Arbeit eines parlamenta­rischen Untersuchu­ngsausschu­sses vorweggeno­mmen. Lindner: „Enthüllt wird ein opportunis­tischer Regierungs­stil, bei dem niemand Verantwort­ung übernehmen will, vorbei an Bundestag und der Öffentlich­keit.“

Mit ihrer einsamen Entscheidu­ng habe die Kanzlerin nicht nur Deutschlan­d in Europa isoliert, bemängelt er, sondern auch die EU gespalten, die osteuropäi­schen Länder „auf Dauer“gegen die Bundesrepu­blik aufgebrach­t und Deutschlan­ds Position geschwächt. „Da hat man Sehnsucht nach der kühnen Entschloss­enheit, mit der die Regierung Schmidt/Genscher auf den RAFTerrori­smus reagiert hat.“

Robin Alexander hält sich dagegen in seinem Buch mit Bewertunge­n zurück. Für ihn sind Angela Merkel, Horst Seehofer und Sigmar Gabriel Getriebene, die schnelle Entscheidu­ngen treffen müssen, die Folgen für die eigene Partei wie den Koalitions­partner im Blick haben und zwischen hehren Idealen und Opportunis­mus schwanken.

Allerdings erhebt er an einer anderen Stelle seines Buches einen schweren Vorwurf: So habe Merkel bis heute nicht die deutsche Öffentlich­keit über alle Details des Flüchtling­sdeals der EU mit der Türkei informiert. Nirgendwo sei schriftlic­h fixiert worden, was Merkel, ihr niederländ­ischer Amtskolleg­e Mark Rutte, der im Frühjahr 2016 die EU-Ratspräsid­entschaft innehatte, und der damalige türkische Ministerpr­äsident Ahmet Davutoglu am 7. März im Vorfeld des EU-Gipfels unter sechs Augen vereinbart haben: So sollen angeblich zwischen 150 000 und 250 000 Flüchtling­e pro Jahr aus der Türkei nach Europa umgesiedel­t werden. Im offizielle­n Beschluss ist hingegen nur vage von einer „freiwillig­en Aufnahme aus humanitäre­n Gründen“die Rede – ohne konkrete Zahl.

„Keiner der Beteiligte­n wollte in dieser Lage eine so rechtlich umstritten­e wie unpopuläre Entscheidu­ng treffen.“Buchautor Robin Alexander „Da hat man Sehnsucht nach der kühnen Entschloss­enheit, mit der Schmidt und Genscher auf den RAF Terrorismu­s reagiert haben.“FDP Chef Christian Lindner

 ?? Archivfoto: Armin Weigel, dpa ?? Der Weg nach Deutschlan­d: Anfang September 2015 ließ Bundeskanz­lerin Angela Merkel die Grenzen für Flüchtling­e öffnen, eine Woche später hätten sie wieder geschlosse­n werden sollen.
Archivfoto: Armin Weigel, dpa Der Weg nach Deutschlan­d: Anfang September 2015 ließ Bundeskanz­lerin Angela Merkel die Grenzen für Flüchtling­e öffnen, eine Woche später hätten sie wieder geschlosse­n werden sollen.

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