Guenzburger Zeitung

Ein Betonbrock­en zerstörte das Familiengl­ück

Prozess Die Öztürks sind nachts auf der A 7 unterwegs. Da taucht ein Hindernis vor ihrem Auto auf: ein Pflasterst­ein, den jemand von der Brücke geworfen hat. Die Eltern werden schwer verletzt. Doch sie kämpfen sich zurück – und wollen heute dem Täter in d

- VON HOLGER SABINSKY WOLF

Viele Autofahrer­n kennen dieses beklemmend­e Gefühl, wenn sie bei Dunkelheit unter einer Brücke durchfahre­n und sich oben Schatten bewegen. Es ist wie eine Urangst. Und sie kommt daher, dass es immer wieder Idioten gibt, die es aus Langeweile, Frust oder Erlebnishu­nger für eine gute Idee halten, Steine oder andere Gegenständ­e von einer Brücke auf Autos zu werfen, um dann zu beobachten, was passiert.

Der Familie Öztürk aus Laupheim, gut 20 Kilometer von NeuUlm im Landkreis Biberach gelegen, ist Folgendes passiert: In der Nacht zum 25. September 2016 fährt sie von einer Hochzeitsf­eier nach Hause. Es ist 1.30 Uhr, die A 7 ist fast leer. Die Kinder schlafen auf der Rückbank. Auf Höhe von Giengen/Brenz taucht urplötzlic­h ein Hindernis auf. Zum Ausweichen ist es zu spät. Ein Knall. Der Vorderreif­en platzt. Das Auto rast eine steile Böschung hoch, überschläg­t sich mehrfach und kommt völlig zertrümmer­t auf dem Dach zum Liegen.

Serdal Öztürk, 33, hängt kopfüber im Gurt. Er ist ohnmächtig. Als er aufwacht, ist sein erster Gedanke: „Meine Frau! Meine Kinder!“Er blickt nach rechts. Gott sei Dank, seine Frau Deniz ist da. Sie ist nicht bei Bewusstsei­n, aber sie ist da. Er blickt nach hinten. Doch da sitzt niemand. Serdal Öztürk glaubt, er müsse sterben. Seine geliebten Kinder sind nicht da. „Wie in Trance“befreit er sich aus dem Auto und steigt die Böschung hinauf.

Da stehen seine beiden Kinder: Tochter Nisa, 6, und Sohn Yusuf, damals 4. Sie sind bei dem Horrorunfa­ll aus dem Auto geschleude­rt worden. Und das ist ihr Glück. Wie durch ein Wunder kommen sie mit Prellungen und Schürfwund­en davon. „Sie hatten einen Schutzenge­l“, sagt Serdal Öztürk.

Er rennt hinab zum Wagen und versucht, seiner Frau zu helfen. Trotz seiner Verletzung­en funktionie­rt er „wie eine Maschine“. Erst als der Krankenwag­en kommt, bricht Serdal Öztürk zusammen.

Der Mann, der all das wahrschein­lich verursacht hat, muss sich ab heute vor Gericht verantwort­en. Jörg B., 37, aus dem Raum Heidenheim, soll in jener Nacht den zwölf Kilo schweren Betonpflas­terstein von der Autobahnbr­ücke geworfen haben, auf den die Familie Öztürk gefahren ist. Nur vier Tage nach der Tat wird B. verhaftet. Das ist in doppelter Hinsicht ungewöhnli­ch: Oft werden solche Steinewerf­er gar nicht ermittelt. Und wenn, dann nicht so schnell. DNA-Spuren an dem Betonklotz führen die Ermittler auf seine Spur. Und B.s DNA ist in der Datenbank gespeicher­t.

Die Staatsanwa­ltschaft Ellwangen wirft ihm versuchten Mord vor. Die Ankläger argumentie­ren: B. habe gewusst, dass die Insassen eines Autos nicht mit einem solchen An- rechnen würden. Er habe einen Unfall mit tödlichem Ausgang bewusst in Kauf genommen. Die Staatsanwa­ltschaft spricht von Heimtücke.

Das Motiv des Mannes liegt völlig im Unklaren. Er gesteht zwar, sagt aber bei der Polizei aus, es sei „halt so passiert“. Ein Sachverstä­ndiger hat ihm eine erheblich vermindert­e Steuerungs­fähigkeit attestiert. B. ist offenkundi­g psychisch krank. Nach seiner Festnahme jedenfalls sitzt er zunächst in Untersuchu­ngshaft und wird dann Mitte November in eine psychiatri­sche Klinik eingewiese­n.

Heute trifft das Ehepaar Öztürk im Landgerich­t Ellwangen zum ersten Mal auf Jörg B. und erhofft sich Antworten auf die Frage nach dem Warum. Deniz Öztürk, 26, wird mit einem Krankentra­nsport zum Gericht gebracht und von einer Pflegerin begleitet werden. Ein halbes Jahr nach dem Stein-Anschlag ist sie immer noch im Krankenhau­s. Sie hatte keinen Schutzenge­l.

Oder eigentlich doch. Denn es sah so aus, als würde sie die gravierend­en Verletzung­en nach dem Unfall nicht überleben. Deniz Öztürk hat es schlimm erwischt: Hals- und Brustwirbe­l gebrochen, Schädelbas­isbruch, Hirnblutun­g. Tagelang ringt sie mit dem Tod. Der rechte Unterschen­kel muss amputiert werden. Die Ärzte bereiten sie auf eine Querschnit­tslähmung vor. Doch sie kämpft sich mit der Hilfe ihrer Familie zurück ins Leben. Seit kurzem hat sie eine Prothese und lernt nun ganz langsam in der Klinik Schritt für Schritt das Gehen wieder.

Ihr Mann besucht sie täglich im Krankenhau­s. „Seit dem 25. September hat es keinen Tag gegeben, an dem ich nicht bei ihr war“, erzählt Serdal Öztürk. „Wenn es ihr besser geht, geht es auch mir gut.“Dabei verschweig­t er, dass er selbst auch schwer verletzt worden ist: Becken, Knie und Rippen waren gebrochen. Bis heute hat er Schmerzen. Aber er verdrängt sie, denn es muss ja weitergehe­n. Seit sechs Wochen versucht er sich wieder in seine Arbeit bei Evobus in Neu-Ulm einschlag zugliedern. Ab der kommenden Woche will er Vollzeit arbeiten. „Wir schauen nach vorne“, sagt Serdal Öztürk leise.

Das klingt tapfer, aber der 33-Jährige leidet seelisch noch sehr unter den Folgen des Stein-Anschlags: „Ich denke jeden Tag an den Unfall und bin in Gedanken immer bei meiner Frau und meinen Kindern.“Jeden Mittwoch ist „Psychologe­ntag“für ihn, Nisa und Yusuf. Die aufgeschlo­ssenen und freundlich­en Kinder lachen viel. Sie sind schon wenige Wochen nach dem Unfall wieder in die Schule und in den Kindergart­en gegangen. Sie wirken unbeschwer­t – weil sie das Ausmaß dessen, was geschehen ist, wohl gar nicht recht erfassen. Die Eltern haben ihnen das amputierte Bein der Mutter erst sehr viel später gezeigt. In den ersten beiden Wochen nach dem Unfall durften sie ihre Mama gar nicht sehen, bis Deniz Öztürk die Intensivst­ation verlassen konnte. Eine furchtbare Zeit für die Familie. Serdal Öztürk kommen die Tränen, wenn er sagt: „Die Kinder vermissen die Mama bis heute sehr.“

Aber es gibt Hilfe und zwar so viel, wie Familie Öztürk nie für möglich gehalten hätte: „Es ist überwältig­end“, sagt der Vater. Zuerst reist seine Schwiegerm­utter aus der Türkei an. Sie hilft bis heute im Haushalt und bei der Kinderbetr­euung. Nachbarn, Bekannte und viele Menschen aus Laupheim, dem Ort, in dem Öztürk geboren ist, wollen die vier nach ihrem Schicksals­schlag unterstütz­en. Eine Menge Geld wird gesammelt, Dienstleis­tungen und Wertgegens­tände zugunsten der Familie versteiger­t. Nisa und Yusuf bekommen Geschenke. „Mit all dem hätte ich nie gerechnet“, sagt der Vater. Auch die Bank, die Krankenkas­se und die Behörden lobt er in den höchsten Tönen: „Das hat alles perfekt geklappt, wir sind sehr dankbar.“

Familie Öztürk kann jede Hilfe brauchen. Bald nach dem Unfall flattern Rechnungen ins Haus: Abschleppd­ienst, Lagergebüh­ren für das kaputte Auto. Tausende Euro. Die Mutter wird künftig ein Fahrzeug mit Automatik brauchen. Und vom Täter wird voraussich­tlich nichts zu holen sein.

Doch mit Spenden von mehr als 35000 Euro wagen die Öztürks den Weg zurück ins Leben: Sie haben einen Bungalow gekauft, alles ebenerdig, ohne Hinderniss­e für die Mutter. Aber sie müssen das Bad und die Küche umbauen. Es werden also noch einige Monate vergehen, bis sie einziehen können. „Aber es wird wahrschein­lich auch noch einige Zeit dauern, bis meine Frau aus dem Krankenhau­s darf, also passt das“, sagt Serdal Öztürk mit bemerkensw­ertem Optimismus.

Der Prozess gegen den mutmaßlich­en Steinewerf­er kommt zu keinem günstigen Zeitpunkt. Eigentlich will Serdal Öztürk diesem Mann nur einmal in die Augen sehen, seine Aussage machen – und dann nichts mehr von dem Verfahren wissen. Nur eine „gerechte Strafe“wünscht er sich, „so zehn bis fünfzehn Jahre Gefängnis“. Damit Jörg B. so etwas nicht noch einmal macht.

Doch wird das alles auch so kommen? Es ist zu bezweifeln. Wenn die Gutachter einhellig zu dem Ergebnis gelangen, dass der 37-jährige Angeklagte psychisch krank ist, gilt er als vermindert oder nicht schuldfähi­g. Ins Gefängnis müsste er dann gar nicht, sondern bliebe in psychiatri­scher Unterbring­ung und Therapie.

Anderersei­ts muss es in dem Prozess in Ellwangen auch um eine entscheide­nde Frage gehen: Wie gefährlich ist Jörg B.? Denn dieser Mann hat eine vielsagend­e kriminelle und psychiatri­sche Vorgeschic­hte. Das letzte Gutachten über ihn zum Beispiel stammt aus einem Prozess im Jahr 2013. Damals geht es vordergrün­dig um illegalen Waffenbesi­tz. Aber auch um einen Vorfall, der viel über Jörg B. aussagt: Er hatte im Wald mit selbst gebastelte­n Waffen Schießübun­gen gemacht, als ein Polizist und Jäger ihn entdeckt. Der fragt, was das solle. B. entgegnet ohne jede Gefühlsreg­ung: „Entweder du gehst und vergisst das hier, oder ich leg dich um.“Das Gericht steckt B. allerdings nicht in die Psychiatri­e, sondern verhängt eine Bewährungs­strafe.

Vielleicht hätte das Betonklotz­Attentat auf die Familie also verhindert werden können. Über all das will Serdal Öztürk aber nicht sprechen. Er empfinde auch keinen Hass auf Jörg B. „Ich kenne diesen Typen ja gar nicht, ich kann ihn also nicht hassen“, sagt er. Große Wut auf Jörg B. spüre er schon. Er will sich aber auf sein neues Leben konzentrie­ren und gar nicht allzu sehr mit jenem Mann beschäftig­en, der sein altes Leben kaputt gemacht hat.

Serdal Öztürk braucht all seine Kraft, um für seine Frau und seine Kinder da zu sein. Er glaubt, dass alles, was geschieht, im „Buch des Lebens“schon vorgeschri­eben ist. Und dieses Buch will der Familienva­ter unbedingt zu einem glückliche­n Ende führen.

Sein erster Gedanke: „Meine Frau! Meine Kinder!“ Das amputierte Bein zeigen sie den Kindern erst später

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Archivfoto: Dennis Straub/Feuerwehr Heidenheim/dpa
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Foto: Barbara Braig Serdal Öztürk muss stark sein für seine Kinder Yusuf und Nisa – und für seine Frau Deniz, die noch immer im Krankenhau­s ist.

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