Gar kein Geschwafel
Jonas Lüscher Ein RhetorikProfessor verstummt
Was ist das für ein großartiger Schwafler! Kann denken, zitieren, brillieren, hier bisschen Hölderlin, da Nietzsche, Schopenhauer oder der Heidegger, und macht mit Worten auch die Frauen schwach, bis die sich nämlich müde vom Geschwafel ihm ergeben. Reden also kann er, der Rhetorikprofessor Richard Kraft, aber privat sieht es dennoch desaströs aus. Die zweite Ehe steht vor dem Scheitern, eine Scheidung jedoch kann er sich finanziell nicht leisten, weil ja auch noch der Unterhalt für die Kinder aus der ersten Ehe gezahlt und der Wohnungskredit abgestottert werden muss. Für diesen Schwafler aus Tübingen kommt das Angebot seines Freundes István aus dem Silicon Valley gerade recht. Eine Million Dollar winken dem Wissenschaftler, der die in Anlehnung an Leibniz’ Essay zur Theodizeefrage formulierte Preisfrage am überzeugendsten beantworten kann: „Weshalb alles, was ist, gut ist und wir es dennoch verbessern können.“Wer bitte, wenn nicht Kraft, Meisterredner, Inhaber des einstigen Lehrstuhls von Walter Jens in Tübingen, soll da gewinnen. Ihm schwebt auf jeden Fall schon mal ein europäischer Ton vor …
Der Schweizer Autor Jonas Lüscher, Jahrgang 1976, lässt in seinem Romandebüt „Kraft“diesen Professor sich jedoch seinen Kopf zermartern. Der Name entpuppt sich also ein Witz, der Roman als Satire. Saftund kraftlos hockt der deutsche Denker im Hoover Tower auf dem Campus der Stanford University und brütet vor sich hin. Theodizee und Technodicy. Aber die Gedankengänge werden nicht nur von einer mexikanischen Putzfrau gestört, die mit ihrem tösenden Staubsauger auch noch die letzten Ideen einsaugt. Der Rhetorikprofessor kann nicht mehr klar denken, weil fernab von zu Hause und Hölderlin-Turm sich die eigentlichen Fragen des Lebens in den Vordergrund drängen: Weshalb alles, was ist, derzeit überhaupt nicht gut ist und wie das passieren konnte.
Was Kraft in dem Moment bräuchte: Die Scharfsichtigkeit und Lässigkeit, mit der Autor Lüscher in diesem funkelnden schmalen Werk Philosophie en passant erklärt, sich von Archilochos bis zum Werk des Kapitalismuskritikers Josef Vogel vorarbeitet, den Hype um die digitalen Zukunftsschmiede im Silicon Valley seziert, gewitzte Zeitdiagnostik betreibt. Sein Kraft ist dazu nicht mehr fähig. Verwirrt vom lebenslangen Geschwafel. Da sitzt er nun unterm streng blickenden Porträt des einstigen Verteidigungsminister Rumsfeld und wird mit den eigenen Irrtümern konfrontiert. In der Politik: Als Student war er glühender Verfechter des Neoliberalismus und bekennender Thatcherianer. In der Liebe: Vorbei die Zeiten, in denen er genüsslich am Hallux-Zeh seiner Heike knabberte, die ihn nur deswegen in die kalifornische Sonne entlässt, damit sie mit der gewonnenen Million das Ehe-Experiment beenden kann. Warum? „Kraft rudert gerne. Im Einer. Der Gleichschlag liegt ihm nicht“, schreibt Lüscher.
Der Letzte, mit dem es im Gleichschlag klappte, war sein Freund István, der einst von der ungarischen Universitäts-Schachmannschaft in Berlin vergessen wurde, aus der Not zum politischen Flüchtling mutierte. Glückliche Zeiten, als sich beide auf dem Sofa Knight-Rider-Videos reinzogen. Jetzt hat sich der Rüstungsexperte István einer anderen Macht verschrieben: einem skrupellosen Silicon-Valley-Ideologen, der sich vom ausgelobten Preis rhetorische Schützenhilfe fürs nächste Projekt verspricht. Was Kraft also liefern soll, ist eine Art „LeberwurstMilchshake“. Undenkbar. Da fragt er sich von Sinnen: „Was hat er nur heute mit diesen Ausrufezeichen, die benutzt er doch sonst nie; aus Prinzip nicht!“Stefanie Wirsching