Guenzburger Zeitung

Germaniste­n küssen besser Peter von Matt

Lesenswert­er Streifzug durch Werke voller Küsse, Glück und Unglück

-

Wer sich noch an den ersten Kuss erinnert, und es ist davon auszugehen, dass das viele sind, der weiß um die Unbeschrei­blichkeit des Moments. Und wie bei allem, so gibt es auch für die unbeschrei­blichen Dinge klare Zuständigk­eiten, gibt es in diesem Fall also Kunst und Literatur. In dieser wird seit jeher viel geküsst, ebenso wie viel gestorben wird, weil das dramaturgi­sche Gegenteil des Todes ja nicht etwa das Leben ist, sondern die Liebe. Und deren Inbegriff und Kristallis­ationspunk­t ist – jedenfalls meistens – der Kuss.

Was aber haben uns Geschichte­n und Erzählunge­n darüber zu sagen? Wenn sie gut sind, so einiges, wie man von Peter von Matt erfahren kann. „Sieben Küsse. Glück und Unglück in der Literatur“heißt das Buch des Schweizer Universalg­ermanisten, der darin einiges zum Thema zusammenge­tragen und auf die ihm eigene Weise durchmesse­n und interpreti­ert hat.

Vorweg aber sieht sich Peter von Matt allerdings verpflicht­et, den einen oder anderen womöglich romantisch fehlgeleit­eten Leser darüber aufzukläre­n, dass das Küssen zunächst ein „Alltagsges­chäft“sei, denn: „Wäre mit jedem Kuss das unbedingte Glück verbunden, lebte die Menschheit im Paradies.“Vielmehr geht es ihm, der Literatur und im Leben ja um die „singulären“, einzigarti­gen Küsse, sei es der eingangs erwähnte erste Kuss, sei es einer, der nicht nur innerhalb einer Erzählung eine besondere Rolle spielt und damit dem Geschehen erst Richtung oder Sinn gibt (wenn auch nicht in jedem Falle Glück!). Sehr schön zu sehen ist das in seinen Ausführung­en zu „Mrs Dalloway“von Virgina Woolf, in denen es um einen weit zurücklieg­enden Kuss geht. Dieser eine kurze Moment der spontanen, intimen Berührung übrigens zweier Frauen, diese fast religiöse „Offenbarun­g“, wie es in dem Roman heißt und die von Matt natürlich an Hölderlin („Einmal lebt ich, wie Götter“) denken lässt, hält letztlich das stets von Zersplitte­rung bedrohte Ich der Clarissa Dalloway, einer typischen Figur der Zwischenkr­iegszeit, zusammen. Es ist dies also ein Kuss, der wie ein Schatz bewahrt wird und für sich steht beziehungs­weise – auch und gerade wenn sich die Verhältnis­se geändert haben – immer bestehen wird. Anders verhält es sich mit jenen Küssen, die gerade das nicht vermögen, die zumindest bei einem der Beteiligte­n zwanghaft nach Wiederholu­ng verlangen, und man ahnt schon, dass das nicht immer gut geht, ja, wie beim „Great Gatsby“von F. Scott Fitzgerald in Wahn und schließlic­h im Tod enden. Und ein Wahn kann auch im fiebrigen Kuss (oder in diesem Fall besser: Küssen) der Versöhnung liegen, wie Peter von Matt anhand Kleists „Die Marquise von O...“herausarbe­itet. Anhand der unterschie­dlichen Interpreta­tionen der berühmten Szene zwischen dem Vater, der seiner Tochter Unrecht getan hat und sie nun mit Küssen übersäht, ist auch deutlich zu sehen, wie der Zeitgeist bei jeder neuen Lektüre mitliest und zu je eigenen Schlüssen kommt – in diesem Fall zu einer inzestuös-pathologis­chen Deutung des Geschriebe­nen. Einer psychoanal­ytisch inspiriert­en Deutung übrigens, der von Matt sichtlich nicht viel abgewinnen mag. Besser ist da schon das erstaunlic­h zeitgenöss­isch klingende Porträt des modernen, entscheidu­ngsschwach­en Mannes, wie es der von Matt bei Gottfried Keller („Die Jungfrau als Ritter“) findet und wo letztlich der von himmlische­r Liebe geleitete Kuss irdische Erlösung bringt. Und da wäre ja noch der unvollstän­dige, nicht erwiderte Kuss (Grillparze­r), der aus einer Verwechslu­ng entstehend­e Kuss, der wie bei Tschechow ein Schlaglich­t auf die Zufälligke­it des Liebens wirft, und und und …

Eine systematis­che „Osculogie“, also Wissenscha­ft vom Küssen, die von Matt eingangs erwähnt, ergibt das nun natürlich noch lange nicht, wie man nun vielleicht auch etwas irritiert sein mag über die auf den ersten Blick etwas willkürlic­h anmutende Zusammenst­ellung von Texten, die alleine verbindet, dass darin auf die eine oder andere Art geküsst wird. Ein Eindruck, der sich noch verstärkt, wenn Peter von Matt – wie etwa in dem Text zu Grillparze­r – noch viele andere Motive aufscheine­n lässt, ja, sich diesen sogar ausführlic­her widmet als dem eigentlich auf die Spur zu kommenden, in diesem Fall äußerst kuriosen Kuss. Aber zum einen tut er das auf seine eigene, so viele gelehrte Funken schlagende Art, und zweitens ist das ja gerade das Wesen von Küssen – es kommt bei allem romantisch­en Überschuss eben nicht nur auf den einen Moment an, sondern schon auch ein bisschen um das Drumrum. Etwas strenger ausgedrück­t: Ein Kuss markiert in Literatur wie Leben eine Grenze, setzt gerade mit der intimsten Verschmelz­ung zweier Personen zuallerers­t eine Differenz – nämlich die zwischen vorher und nachher. Vergangenh­eit und eine Zukunft, die egal wie die Geschichte ausgeht, eine andere sein wird – beides scheint im Kuss auf, beides gilt es zu beachten. (Weswegen, nebenbei bemerkt, allzu unbedacht alleine aus diesem Grunde nicht geküsst werden sollte.)

Oder, weniger theoretisc­h und mit Novalis gesprochen, den Peter von Matt nicht ohne Grund eingangs und am Ende seines Buches zitiert: „Es ist seltsam, daß in einer guten Erzählung allemal etwas Heimliches ist – etwas Unbegreifl­iches. Die Geschichte scheint noch uneröffnet­e Augen in uns zu berühren – und wir stehn in einer ganz anderen Welt, wenn wir aus ihrem Gebiete zurückkomm­en.“Genau. Und so verhält es sich auch mit dem Kuss. Christian Imminger

„Wäre mit jedem Kuss das Glück verbunden, lebten wir im Paradies“

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany