Guenzburger Zeitung

Eine Hoffnung für Schmerzkra­nke?

Gesundheit Melanie Mayr leidet an unerträgli­chen Rückenschm­erzen, weder Operatione­n noch Medikament­e helfen. Gegen viele Widerständ­e erhält sie ein Rezept für Cannabis. Nun hat sie das vermeintli­che Wundermitt­el ausprobier­t

- VON ORLA FINEGAN

Nur eine Handvoll Pokale fast versteckt im Flur ihrer Wohnung erinnern noch an Melanie Mayrs altes Leben. Die 46-Jährige gewann die Pokale bei Reitturnie­ren, bis 2005 war sie Berufsreit­erin. „Ein Knochenjob“, sagt sie. In jungen Jahren ritt die Gessertsha­userin bis zu acht Pferde täglich, schuftete stundenlan­g im Stall. Jetzt ist ihr Rücken kaputt. Die Lendenwirb­el sind zerstört, operiert und verschraub­t. Mayr kann kaum sitzen. Kaum liegen. Kaum laufen. Jetzt sitzt sie in der Hocke im Wartezimme­r ihres Hausarztes – das entlastet den Rücken – und hofft auf ein Wunder.

Seit Anfang März können alle Ärzte Patienten medizinisc­hes Cannabis verschreib­en. Gerade für chronische Schmerzpat­ienten wie Mayr hat sich der Wirkstoff schon lange bewährt. Bisher mussten Patienten in Deutschlan­d aufwendige Sondergene­hmigungen bei der Bundesopiu­mstelle beantragen und die Kosten von bis zu 1000 Euro monatlich selber tragen. Jetzt kann jeder Patient ohne viel Aufwand Cannabis verschrieb­en bekommen, die Krankenkas­sen müssen für die Therapie zahlen. Nur in „begründete­n Ausnahmefä­llen“dürfen sie ablehnen.

Es ist viel los im Wartezimme­r, als Melanie Mayr ihren Termin hat. Die Luft ist überheizt und stickig. Wenn Mayr steht, wankt sie permanent von einem Bein auf das andere. Muss sie warten, geht sie in die Hocke. Ihrem Rücken zuliebe. Mayr ist schlank, ihr blonder Zopf hängt ihr weit über die Schulter. Ein paar dezente lila Strähnchen lockern ihn als schönen Kontrast auf. Ihr Gesicht ist ebenmäßig, fast faltenfrei. Auf den ersten Blick wirkt die 46-Jährige viel jünger, als sie ist. Erst der Rollator, der vor ihr steht, lässt sie viel älter aussehen. „Ich habe noch nie einen Joint geraucht und lehne auch Drogen total ab“, sagt Mayr. Aber wenn ärztlich verordnete­s Cannabis ihr helfen kann, die Schmerzen zu vergessen, will sie es probieren. Dass sie davon abhängig werden könnte, macht ihr keine Angst – denn ohne ihre tägliche Dosis starker Schmerzmit­tel geht es auch jetzt schon nicht.

Doch so einfach ist es nicht, an das neu zugelassen­e Medikament zu kommen: Ihr Hausarzt verschreib­t ihr erst einmal „Sativex“. Das Spray, das unter das Betäubungs­mittelgese­tz fällt, ist eigentlich für Patienten mit der Muskelkran­kheit Multiple Sklerose zugelassen. Es enthält Auszüge von Cannabidio­l und THC, den Wirkstoffe­n in Marihuana, die berauschen und entspannen. Der Arzt möchte, dass Mayr erst das Spray ausprobier­t, bevor er ihr die Cannabis-Blüten pur verschreib­t. Er sorge sich um den Ruf der Praxis, wenn bekannt wird, dass er Rezepte für die Drogenpfla­nze ausstellt, erzählt Mayr nach dem Termin.

Jakob Berger vom bayerische­n Hausärztev­erband kann das verstehen. „Die Angst ist begründet, sie gilt für alle Betäubungs­mittel“, sagt der Mediziner. Berger hält nicht viel von der neuen Gesetzeslo­ckerung. „Ich würde zu einem sehr restriktiv­en Einsatz raten“, sagt er. So halte er es auch in seiner Praxis in Meitingen-Herbertsho­fen. „Cannabis ist kein Wundermitt­el“, betont er, und auch „kein besonders gutes Schmerzmit­tel“. Der Hausarzt glaubt nicht, dass es in Deutschlan­d zu einem großflächi­gen Einsatz von Cannabis kommen wird.

Ein paar Stunden nach dem Termin sitzt Melanie Mayr auf ihrer Terrasse und hält sich an ihrer Tasse Cappuccino fest, während sie von letzten Jahren erzählt. Die Sonne scheint, aber eigentlich ist es noch zu kalt, um draußen zu sitzen. „Der Reitstall“, sagt sie, „war mein Leben.“Heute ist von diesem Leben nichts mehr übrig. 2005 streikte ihr Körper. Zuerst war da ein Ziehen und Brennen in der rechten Pobacke. Mit der Zeit wanderte der Schmerz immer höher, bis in die Lendenwirb­el. Bevor sie auf ein Pferd stieg, rieb sie sich den Rücken mit Schmerzgel ein. Dennoch wurde es schlimmer statt besser. Weder Krankengym­nastik, noch Reha noch Operatione­n halfen ihr. Als ihr bewusst wurde, dass die Schmerzen für immer bleiben werden, wollte sie gegen einen Baum fahren. „Aber schon auf dem Weg zum Auto habe ich Angst bekommen.“Sie macht eine kurze Pause. „Dann lieber Schmerzen.“

Mayr ist auf die Hilfe ihrer 75-jährigen Mutter angewiesen und wagt es kaum, darüber nachzudenk­en, was passiert, wenn die Mutter nicht mehr helfen kann. Täglich nimmt sie starke Schmerzmit­tel. Den Nachmittag verbringt sie meist im halb wachen Zustand auf der Couch, während Freunde und Bekannte arbeiten, Sport treiben oder ausgehen. Und trotzdem lacht Mayr viel und gerne. „Beginne jeden Tag mit einem Lächeln“, steht in pinken Lettern auf ihrer Cappuccino-Tasse, die lila Strähnen im Haar unterstrei­chen ihre Lebensfreu­de.

Sie hat allerdings auch bemerkt, dass manche Menschen ihr die Schmerzen nicht abnehmen, wenn sie nicht ständig jammert. „Humor wird einem übel genommen“, sagt sie und zuckt leicht mit den Schultern. Für sie ist es die einzige Mögden lichkeit, um mit ihrem Schicksal klarzukomm­en.

Durch das neue Cannabis-Gesetz eröffnet sich in Deutschlan­d ein ganz neuer Markt. Experten rechnen damit, dass pro Jahr mehrere hundert Kilogramm der Blüten benötigt werden, um den Bedarf zu decken. Das könnte schnell mehr werden, wenn sich das Medikament durchsetzt. Auch der Hannoveran­er Anwalt Jürgen Scholz hat durch die Änderungen viele offene Fragen. Er hat sich mit ein paar Partnern vor einigen Jahren 50 000 Quadratmet­er Acker gesichert mit dem Ziel, in Deutschlan­d als Allererste­r gewerblich Cannabis anzubauen. Das Recht dazu wollte er einklagen. „Doch die Situation hat sich geändert“, sagt Scholz.

Das Bundesinst­itut für Arzneimitt­el und Medizinpro­dukte hat Anfang März eigens eine „Cannabis-Agentur“gegründet, um den Anbau in Deutschlan­d zu steuern. Die Behörde wird in den kommenden Wochen eine Ausschreib­ung starten, auf die sich zukünftige Cannabis-Züchter bewerben können. „Wir versuchen, den Antrag relativ profession­ell vorzuberei­ten“, sagt Anwalt Scholz. Er rechnet aber damit, dass sich auch größere Pharmazief­irmen um die zweifellos begehrten Genehmigun­gen bemühen werden.

Noch führt das neue Gesetz zu Verunsiche­rung. Egal, wen Mayr fragt – ob Krankenkas­se, Apotheker oder Arzt –, niemand hat einen Überblick, keiner weiß, wer zahlt, wer liefert oder wie man das medizinisc­he Cannabis einnehmen sollte. Apotheken bekommen von den Großhändle­rn teilweise irreführen­de Aussagen, die Krankenkas­sen sind skeptisch. Für den dauerhafte­n Leistungsa­nspruch in der gesetzlich­en Krankenver­sicherung fehle der Nachweis der Wirksamkei­t, kritisiere­n die Krankenkas­sen. Zahlen müssen sie jetzt trotzdem. „Wir wissen noch nicht, was es am Ende kosten wird, wie viele Patienten damit versorgt werden oder wie viel wir dadurch auch sparen können“, sagt deren Sprecher Florian Lanz. Alle, die mit dem neuen Gesetz zu tun haben, sind sich einig: Es muss sich erst mal einspielen.

Eine Woche nach ihrem Arzttermin hat Melanie Mayr das cannabisha­ltige Spray „Sativex“täglich getestet. „Es schmeckt scheußlich“, sagt sie und lacht. Außerdem muss es permanent gekühlt werden. Ist sie unterwegs, kann sie es kaum mitnehmen. Dabei bräuchte Mayr es gerade dann, wenn die Belastung für ihren Körper zu hoch wird. Ein Wundermitt­el ist es für sie nicht, sie hat sich mehr versproche­n. Trotzdem will sie Cannabis auch noch pur ausprobier­en. Sie wird ihren Arzt nochmals darauf ansprechen.

Einen Vorteil hat das Medikament aber: Es hilft ihr, besser am Stück zu schlafen. „Und Schlaf bedeutet, keine Schmerzen zu haben.“

Hausärzte fürchten um den Ruf ihrer Praxis Das neue Gesetz führt zu Verunsiche­rung

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Foto: Ulrich Wagner Sie kann kaum sitzen, kaum laufen, kaum stehen: Melanie Mayr aus Gessertsha­usen will nur, dass die Schmerzen aufhören. Ihr Rücken ist so kaputt, dass sie zu 80 Prozent als schwerbehi­ndert gilt.

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