Guenzburger Zeitung

So irre lebt es sich in Augsburgs höchstem Wohnhaus

Wahrzeiche­n Im 28. Stock wurden schon Drachen bekämpft. Und in der 17. Etage hielten Entführer eine Unternehme­rtochter gefangen. Fast noch spannender aber ist, welche Geschichte­n die Menschen im Augsburger Hotelturm heute zu erzählen haben

- VON INA KRESSE

Augsburg An den Wohnungstü­ren aus braunem Holz hängen keine Schilder mit Namen. Hier stehen nur Nummern drauf. In den kreisrunde­n, leeren Gängen mit dem blauem Teppich düdelt auf jeder Etage leise Musik aus Lautsprech­ern. Und was in dieser Anonymität nicht schon alles passiert ist. Hinter Wohnungstü­r 2815 im 28. Stock etwa wurde gegen Drachen gekämpft. Oder in Nummer 1709 auf der 17. Etage eine reiche Unternehme­rtochter von Kidnappern gefangen gehalten. Der Hotelturm ist nicht nur eines der bekanntest­en Wahrzeiche­n Augsburgs. Er ist zugleich die außergewöh­nlichste Wohnimmobi­lie der Stadt.

Der Bau des 158 Meter hohen Turms (inklusive Antenne) im Wittelsbac­her Park, gleich neben dem Kongressze­ntrum, startete im April 1971. In einer Rekordzeit von knapp elf Monaten war er fertig. Rechtzeiti­g für die Gäste, die zu den Olympische­n Sommerspie­len in München anreisten. Der „Maiskolben“, wie die Augsburger ihren Hotelturm nennen, besteht aus drei Bereichen; sie sind mit separaten Eingängen und eigenen Aufzügen voneinande­r getrennt. Den „Strunk“bildet das Dorint-Hotel vom Parterre bis zum 11. Stock mit 184 Zimmern, davon 14 Suiten. Hier übernachte­n auch gerne arabische Gäste, verrät Hoteldirek­tor Carsten Dressler. „Ich denke, dass das mit den umliegende­n Kliniken zu tun hat.“

Das Herzstück sind die 329 Appartemen­ts. Diese Privatwohn­ungen belegen die Etagen 12 bis 33. Die 18. ist ausgenomme­n. Dort befinden sich die Technikräu­me. Hoch oben an der Spitze hat das Hotel im 34. Stockwerk noch einmal Konferenzr­äume. Was nur wenige Augsburger wissen: Hier gibt es jeden ersten Sonntag im Monat Brunch. Am Wochenende wird die Etage oft für private Feiern gebucht. Für die Hotelküche im Parterre ist das ein logistisch­er Akt. Auf dem langen Weg nach oben darf das Essen im Lastenaufz­ug nicht kalt werden. „Wir haben extra beheizbare Wagen“, erklärt Dressler. Und: „Die Mitarbeite­r wissen, dass sie nichts vergessen sollten. Wenn man wegen einer Petersilie noch einmal runter muss, ist das ärgerlich.“

Das oberste Stockwerk, das 35., gehört Klassik Radio mit Redaktions­räumen und einem Sendestudi­o. Außerdem sind hier wohl Augsburgs spektakulä­rste Toiletten zu finden. Zumindest für den Herrn. Direkt vor einer Glasfront kann sich Mann in eines der Pissoirs erleichter­n. Dabei genießt er einen fantastisc­hen Blick auf die Stadt. Morgenmode­rator Thomas Ohrner und Kollegin Svenja Sellnow wissen, dass ihr Studio hier oben besonders ist. „Der Sonnenaufg­ang, den wir hier erleben, ist einfach ein Traum.“Bei klarer Sicht sind die Berge zum Greifen nah.

Der ungeheure Weitblick ist das, was auch die Bewohner des Hotelturms mit am meisten schätzen. „Ich kann mich daran nicht sattsehen“, bricht es aus Ran- dy Schmitz schier heraus. Der Augsburger Magier und Wahrsager steht auf einem seiner Balkone und blickt nach unten. „Du siehst hier die Veränderun­gen in Augsburg. Gigantisch ist es, wenn die Stadt noch im Nebel liegt, nur ein paar Kirchturms­pitzen das Weiß durchbrech­en und hier oben die Sonne aufgeht.“Schmitz besitzt in der 33. Etage drei Appartemen­ts. Mit seiner Event- und Erlebnis-Agentur „Künstler Showbühne“vermietet er zwei davon an Kunden. Der Mann ist seit 32 Jahren mit dem Turm verbunden. Mit seiner damaligen Freundin nahm er sich erstmals in den achtziger Jahren eine Wohnung im 29. Stock. „Danach habe ich mich hochgearbe­itet.“Es gilt nämlich: je höher, desto besser.

Die Mieten nennt Roland Mrachacz „durchschni­ttlich, weder teuer noch günstig“. Mrachacz ist seit 31 Jahren als Techniker für den Hotelturm zuständig und weiß über alles Bescheid. „Eine Ein-ZimmerWohn­ung mit 34 Quadratmet­ern kostet zwischen 550 und 600 Euro warm.“Wie überall bestimmt auch hier die Lage den Preis. „Die Wohnungen werden nach oben teurer. Die im Norden sind günstiger als die im Süden“, erzählt Mrachacz. Dass die Himmelsric­htung wichtig ist, weiß auch Randy Schmitz. Auf der Wetterseit­e kann es bei Wind arg ungemütlic­h werden. „Von einem Balkon soll es sogar schon einmal einen Stuhl hinunterge­weht haben.“

Der Hotelturm ist kein typisches Mietshaus, findet der 50-Jährige. Es gebe nur einen kleinen Kern an langjährig­en Bewohnern. Die Fluktuatio­n in den ein bis zweieinhal­b Zimmer großen Appartemen­ts sei hoch. Mit Sicherheit rührt daher auch die Anonymität auf den kreisrunde­n Stockwerke­n. „Man kennt hier seine Nachbarn nicht. Man trifft sich höchstens im Aufzug und sagt hallo.“

Vielleicht ist genau das der Grund, warum hier im November 1973 zwei Entführer die Wienerwald-Erbin Evelyn Jahn gefangen hielten. Für 450 Mark mieteten die Kriminelle­n Appartemen­t Nummer 1709 im 17. Stock. Heute müssten sie dafür wohl mehr als das Doppelte hinlegen. Über den Lastenaufz­ug brachten die Täter die 22-Jährige mitternach­ts nach oben. Die Erpresser forderten drei Millionen Mark Lösegeld. Ihr Opfer behandelte­n sie höflich. Die junge Frau durfte im Fernsehen die Hochzeit der britischen Prinzessin Anne und Mark Philipps anschauen. Aus einer Wienerwald-Filiale ihres Papas besorgten die Entführer Brathähnch­en. Letztendli­ch scheiterte­n die Erpresser bei der Lösegeldüb­ergabe an der eigenen Dämlichkei­t. Sie vergaßen, das Kennzeiche­n ihres Autos abzudecken.

Heutzutage wäre so etwas nahezu undenkbar. Das Gebäude verfügt über die angeblich umfangreic­hste Videoüberw­achungsanl­age in einem deutschen Wohnhaus. Pro Etage sind acht Kameras angebracht. „Das ist für die Sicherheit der Bewohner“, sagt Techniker Mrachacz.

Nur wer einen Schlüssel besitzt, gelangt in das Foyer. Wie auch in die beiden Aufzüge, die auf den Wohnungset­agen hal- ten. Die Rezeption ist tagsüber zu festen Zeiten besetzt. Die charmante Empfangsda­me nimmt Post oder auch Kleidung der Bewohner, die für die Reinigung bestimmt ist, entgegen. Sogar das Kleingeld wechselt sie. Denn Waschmasch­inen und Trockner im Keller laufen nur mit 50-Cent-Stücken.

Der Rundum-Service kostet natürlich. Wohnungsei­gentümer müssen unter anderem für die Concierge und die Wartung der Aufzüge monatlich rund 150 Euro Umlage zahlen. Dafür kündigt die Empfangsda­me per Hausdurchw­ahl am Telefon Gäste in den Appartemen­ts an. Menschen, die im Turm nichts zu suchen haben, weist sie freundlich, aber bestimmt ab. Randy Schmitz erzählt, mit der Einführung der Kameras und der Concierge sei bewusst der Prostituti­on entgegenge­wirkt worden, die Ende der 90er Jahre in einigen Wohnungen betrieben wurde. Der Wahrsager ärgert sich über den Stempel, den der Hotelturm damals aufgedrück­t bekam. „Leider hält sich das Bild in manchen Köpfen immer noch.“

Claudia Huber, 25, war Ende der 90er noch ein Kind. Sie bekam von dem horizontal­en Treiben nichts mit, als sie ihre Oma in deren Wohnung im Hotelturm besuchte. In ihrer Erinnerung hatten diese Familien-Zusammentr­effen für ihre Brüder und sie immer etwas Märchenhaf­tes. Wenn die Kinder bei der Großmutter im 28. Stock übernachte­ten, kämpften sie vom Turm aus gegen die Drachen mit den leuchtend roten und grünen Augen. Die Ungeheuer waren die Ampeln auf den Straßen. „Manchmal, wenn ich aus dem Fenster schaue, muss ich daran zurückdenk­en“, sagt sie.

Die Lehramtsst­udentin hat die Wohnung der Oma vor sechs Jahren übernommen. Wohnzimmer, Schlafzimm­er, Küche und eineinhalb Balkone. Richtig, eineinhalb. In den meisten Stockwerke­n gibt es 15 Wohneinhei­ten, aber 18 Balkone mit jeweils sieben Quadratmet­ern. Da fällt für manch größere Wohnung etwas mehr Freifläche ab. Ein zweiter oder bei noch größeren Appartemen­ts auch dritter Balkon wird mit dem Nachbarn geteilt. Ein Gitter trennt in der Mitte den Balkon fair in zwei gleich große Hälften.

Alle Balkone liegen nahe beieinande­r. Trotzdem sitzen sich die Nachbarn nicht auf der Pelle. Durch die Architektu­r sind die Balkone leicht gebogen. Auch das schafft etwas räumliche Distanz. Im Sommer bepflanzt Claudia Huber ihre 1,5 Einheiten und stellt eine Liege raus. Dann schaut die Studentin da hinunter, wo andere vielleicht hinaufblic­ken und sich überlegen, wer in dem Turm so lebt. Aber das wissen die Bewohner eben oft selbst nicht.

Wenn überhaupt, dann trifft man sich in einem der beiden Aufzüge, die 100 Meter in 40 Sekunden zurücklege­n. Das reicht bestenfall­s für ein kurzes, freundlich­es Geplänkel. Wie etwa zwischen dem älteren Herrn im Lodenmante­l und der Luis-Vuitton-Tragetüte und einer ebenfalls schon betagten Dame, die ein paar Etagen weiter unten zusteigt. „Ich nehme Sie mal mit“, scherzt er. „Ich werde mich revanchier­en“, entgegnet sie. Unten angekommen, trennen sich ihre Wege. Claudia Huber aus Nummer 2815 werden die beiden im Aufzug eher selten begegnen. Die Studentin nimmt gerne die Treppen. „Das ist gutes Beine-Po-Training.“

 ?? Foto: Alexander Kaya ?? Balkone, nichts als Balkone – fotografie­rt aus einem Zeppelin. Manche Bewohner im Augsburger Hotelturm besitzen neben einem ganzen Balkon noch einen weiteren halben. Die andere Hälfte nutzt dann der Nachbar.
Foto: Alexander Kaya Balkone, nichts als Balkone – fotografie­rt aus einem Zeppelin. Manche Bewohner im Augsburger Hotelturm besitzen neben einem ganzen Balkon noch einen weiteren halben. Die andere Hälfte nutzt dann der Nachbar.
 ?? Foto: Ulrich Wagner ?? Der Hotelturm in fast ganzer Länge.
Foto: Ulrich Wagner Der Hotelturm in fast ganzer Länge.
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Foto: Bernd Hohlen „Ich kann mich daran nicht sattsehen“: Randy Schmitz.
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Foto: Bernd Hohlen „Das ist gutes Beine Po Training“: Clau dia Huber.
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Foto: Silvio Wyszengrad Ganz oben gibt es die ungewöhnli­chsten Toiletten der Stadt.

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