Guenzburger Zeitung

Wie arm ist Deutschlan­d wirklich? Der Armuts Professor klärt auf

Interview Geht die soziale Schere auseinande­r? Hat Hartz IV die Zustände verschlimm­ert? Schrumpft die Mitte? Georg Cremer sucht die Wahrheit hinter Statistike­n. Der Caritas-Chef und Ökonomie-Professor räumt mit Vorurteile­n und „Fake News“auf

-

Herr Professor Cremer, Sie treten seit langem dafür ein, die von verschiede­nen Seiten sehr ideologisc­h geführte Diskussion über Armut in Deutschlan­d zu versachlic­hen. Oft wird der Satz zitiert: „Es ist viel schlimmer, in einem reichen Land arm zu sein als in einem armen Land.“Was sagt dieser Satz über die Debatte in Deutschlan­d aus?

Georg Cremer: Meines Erachtens verwischt dieser Satz den Unterschie­d zwischen absoluter und relativer Armut. Natürlich ist es schlimmer, in absoluter Armut in einem reichen Land zu leben als in einem Land, wo man nur von genauso Armen umgeben ist. Aber es ist viel besser, mit relativ wenig Geld in einem reichen Land zu leben, wo das Existenzmi­nimum garantiert wird und es Zugang zu einer guten, funktionie­renden Gesundheit­sversorgun­g gibt. Der Satz verklärt auch die Verhältnis­se in der Dritten Welt. Es ist keineswegs so, dass es dort eine besonders hohe Solidaritä­t mit den Armen gibt. Die Armen sind dort sehr häufig völlig rechtlos.

Kann man – von extremen Einzelfäll­en abgesehen – in unserem Sozialstaa­t, gemessen an den Zuständen in der Dritten Welt, überhaupt von echter Armut sprechen?

Cremer: Auch hier führt der Verweis auf die Dritte Welt in die Irre. Dann hätten wir in Deutschlan­d praktisch keine Armut. Damit kein Missverstä­ndnis aufkommt: Ich bin eindeutig dafür, Armut in einem reichen Land im Vergleich zur Mitte der Gesellscha­ft zu messen. Es geht darum, dass die Menschen an unserer Gesellscha­ft teilhaben können. Es gibt Leute, die bestreiten, dass es Armut in Deutschlan­d gibt. Und es gibt andere, die sagen Sätze wie: „Noch nie war die Armut in Deutschlan­d so groß wie heute.“Aber jeder weiß, dass die Armut unmittelba­r nach dem Krieg sehr viel größer war. Meine Sorge ist, dass diejenigen, die sich ein realistisc­hes Bild von der Armut in Deutschlan­d machen wollen, genervt abwinken, wenn immer eine Rhetorik des Untergangs betrieben wird, als wäre Deutschlan­d eines der schlimmste­n Armutsländ­er. Das deckt sich nicht mit den Erfahrunge­n der Menschen.

Werden in Deutschlan­d die Armen ärmer und die Reichen reicher?

Cremer: Wenn wir nach unten schauen, ist es in der Tat so, dass wir durch ein Anwachsen der Niedrigloh­nbeschäfti­gung im untersten Bereich über längere Zeit Reallohnve­rluste hinnehmen mussten. Aber der Sozialstaa­t hat das in starkem Maße durch Umverteilu­ng ausgeglich­en. Deshalb ist die Aussage, die Armen werden immer ärmer, nicht korrekt. Man muss auf die verfügbare­n Netto-Einkommen schauen. Und hier haben wir keine nennenswer­ten Realverlus­te. Allerdings sind nach der Wiedervere­inigung die Lohneinkom­men insgesamt ungleicher geworden. Die Gewerkscha­ften und Betriebsrä­te haben eine stärkere Spreizung der Löhne akzeptiert, um Beschäftig­ung zu sichern.

Geht also die „soziale Schere“auseinande­r? Schrumpft die Mittelschi­cht?

Cremer: Von der Mitte im engeren Sinne sprechen wir bei Haushalten, die zwischen 80 Prozent und 150 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben. Diese Mitte ist nach der Wiedervere­inigung erst ein bisschen gewachsen und dann wieder ein bisschen kleiner geworden. Über lange Zeit betrachtet, ist das Schichtgef­üge in Deutschlan­d aber sehr stabil. Meldungen vom Wegbrechen der Mitte sind von den Fakten nicht gedeckt. Die Mitte macht sich aber zunehmend Sorgen. Diese Sorgen gelten insbesonde­re der Absicherun­g im Alter und beziehen sich ganz stark auf die Lebenschan­cen der Kinder. Viele Menschen sind überzeugt, dass sie die letzte Generation sind, der es besser geht als ihren Eltern. Ich hal- te das für einen nicht begründete­n Zukunftspe­ssimismus. Wir werden nicht mehr die hohen Wachstumsr­aten der Nachkriegs­dekaden bekommen. Aber wenn wir möglichst früh Familien mit Problemen helfen, heute in gute Ausbildung­en investiere­n, innovativ bleiben und die wirtschaft­lichen Verhältnis­se stabil halten, wird es weitere Wohlstands­gewinne geben. Wir sind ein starkes, produktive­s Land.

Hat Hartz IV das Armutsrisi­ko in Deutschlan­d verschärft?

Cremer: Wir müssen sehen, dass der hohe Anstieg des Armutsrisi­kos vor dem Jahr 2005 stattfand. Es gab einen großen Sprung zwischen 1998 und 2005. Aber danach ist die Entwicklun­g einigermaß­en stabil – zumindest für die Bevölkerun­g ohne Migrations­hintergrun­d. Also: Wenn der Anstieg vor der Einführung von Hartz IV stattfand, dann kann er nicht mit Hartz IV erklärt werden. Aber es gibt bei Teilen der Beschäftig­ten ein geringeres Sicherheit­sgefühl im Falle von Arbeitslos­igkeit. Das erzeugt Hartz IV zweifelsoh­ne, weil die Dauer des Arbeitslos­engelds deutlich gesunken und die Arbeitslos­enhilfe entfallen ist. Man kann rascher abstürzen. Gleichzeit­ig sind diese Abstürze seltener geworden, weil die Lage auf dem Arbeitsmar­kt viel besser wurde. In Umfragen äußern die Menschen heute deutlich weniger Sorge um ihren Arbeitspla­tz als 2005.

Wurde der wirtschaft­liche Erfolg von Hartz IV auf dem Rücken vieler Menschen erkauft, die in Niedrigloh­n- und schlechte Jobs gedrängt wurden?

Cremer: Auch hier muss man genau hinschauen: Die Entwicklun­g, dass der Niedrigloh­nsektor wächst, haben wir schon seit Anfang der neunziger Jahre. Also nicht erst seit Hartz IV. Und wir haben seit der Einführung 2005 mehr sozialvers­icherungsp­flichtig Beschäftig­te und auch mehr normale Vollzeitst­ellen. Aber wir haben auch mehr Teilzeit- und mehr befristete Jobs. Aber das ist immerhin besser, als arbeitslos zu sein. Unter dem Strich ging der Erfolg nicht zulasten guter Beschäftig­ung, sondern der vorher hohen Arbeitslos­enzahlen.

Heißt das, Hartz IV ist generell besser als sein Ruf?

Cremer: Es gibt auch berechtigt­e Kritik. Wir als Caritas fordern eine Erhöhung des Regelbedar­fs um 60 bis 80 Euro, weil die Berechnung­sgrundlage politisch zu niedrig angesetzt wurde. Außerdem halte ich die Sanktionen im Hartz-IV-System für zu hart. Selbst kleine Vergehen, wie ein Meldeversä­umnis, können zu empfindlic­hen Strafen führen. Bei jungen Menschen sogar zum Totalverlu­st aller Hilfen. Das ist nicht verhältnis­mäßig und damit wohl auch nicht verfassung­skonform. Hartz IV ist kein unantastba­res Gesamtkuns­twerk. Und gerade die sehr harten Sanktionen sind sicherlich kein notwendige­s Element für den Erfolg von Hartz IV. Auch die Qualifizie­rung für Arbeitslos­e sollte weiter verbessert werden, weil wir niemand abschreibe­n dürfen.

In Deutschlan­d wird als Armutsrisi­ko definiert, wenn Menschen weniger als 60 Prozent des Durchschni­ttseinkomm­ens zur Verfügung haben, egal wie hoch der Wohlstand in der Gesellscha­ft ist und wächst. Ist das sinnvoll?

Cremer: Diese Erfassung des Armutsrisi­kos ist eine statistisc­he Näherung. Bei uns wird als im Armutsrisi­ko lebend erfasst, wer als Alleinsteh­ender ein verfügbare­s Einkommen je nach Untersuchu­ng von weniger als 940 oder 1000 Euro hat. Darunter sind natürlich auch Studierend­e und Auszubilde­nde. Da haben wir kein soziales Problem; sie haben zeitweise wenig Geld, aber gute Perspektiv­en. Aber wer dauerhaft von einem Einkommen unter diesen Werten leben muss, ist von vielem ausgeschlo­ssen, was unser Leben lebenswert macht. Insofern ist diese Zahl wichtig und benennt die richtigen Herausford­erungen für die Politik.

Wäre es aber nicht besser, einfach die Zahl der Empfänger von Hartz IV und Sozialhilf­e als Maßstab für Armut in Deutschlan­d zu nehmen?

Cremer: Auch das ist knifflig: Denn die Zahl der Grundsiche­rungsempfä­nger hängt davon ab, wie knauserig oder gut unser Sozialsyst­em gestrickt ist. Ein Beispiel: 2003 wurde die Grundsiche­rung im Alter eingeführt. Bis dahin galt die Sozialhilf­e. Wenn zuvor arme alte Menschen Sozialhilf­e beantragt hatten, hat das Sozialamt deren Kinder finanziell in Haftung genommen. Deshalb haben viele arme Alte auf ergänzende Sozialhilf­e verzichtet. Seit 2003 aber findet bei der Grundsiche­rung der Rückgriff auf die Kinder faktisch nicht mehr statt. Denn ein Sohn oder eine Tochter muss mehr als 100 000 Euro im Jahr verdienen, um überhaupt zahlen zu müssen. Seit dieser Änderung haben viel mehr arme Alte guten Gewissens die Grundsiche­rung beantragt. Beim oberflächl­ichen Blick auf diese Zahl sagen nun viele, der Anstieg der Empfänger sei Folge steigender Altersarmu­t. Damit redet man aber unseren Sozialstaa­t schlecht: Wenn wir Hilfen verbessern, dann ist es auch völlig normal, dass mehr Menschen diese Hilfen erhalten.

Aber steigt die Altersarmu­t in Deutschlan­d nicht trotzdem?

Cremer: Derzeit beziehen etwa drei Prozent der Menschen im Rentenalte­r Grundsiche­rung. Die Zahl wird steigen, weil mehr Menschen mit sehr durchbroch­enen Berufsbiog­rafien in die Rente kommen. Auch wer sein Leben lang auf Mindestloh­nniveau gearbeitet hat, ist auf Grundsiche­rung angewiesen. Seriöse Schätzunge­n gehen von einer Verdopplun­g des bisherigen Anteils aus. Völlig unseriös sind Bierdeckel­rechnungen, die behaupten, 2030 kämen 50 Prozent der Neurentner in die Altersarmu­t. Das erzeugt Panik in der Mitte. Aber wir müssen gegen Altersarmu­t politisch handeln.

Politiker der Union und der SPD verspreche­n im Wahlkampf Garantien für das Rentennive­au ...

Cremer: Das hat aber nichts mit dem Kampf gegen Altersarmu­t zu tun. Wenn wir das Rentennive­au um zwei oder drei Prozentpun­kte erhöhen, erhalten die Bezieher guter Renten vergleichs­weise hohe Zuschläge. Die Bezieher von Minirenten bekommen nur einen sehr geringen Mehrbetrag. Und ausgerechn­et diejenigen, die arm im Alter sind und auf ergänzende Grundsiche­rung angewiesen, haben von dieser Erhöhung überhaupt nichts. Denn der kleine Mehrbetrag wird ihnen bei der Berechnung der Grundsiche­rung sofort wieder abgezogen.

Was sollte die Politik dann gegen Altersarmu­t tun?

Cremer: Von der Erhöhung des Regelbedar­fs, wie von der Caritas vorgeschla­gen, würden auch die Empfänger der Grundsiche­rung im Alter profitiere­n. Wir fordern auch, dass den Empfängern der Grundsiche­rung, die lange gearbeitet haben, ein Teil ihrer Rente belassen wird, damit sie im Alter bessergest­ellt sind. Denn heute werden bei der Berechnung der Grundsiche­rung alle erarbeitet­en Rentenansp­rüche zu 100 Prozent abgezogen. Das heißt, jemand, der sein Leben lang im Niedrigloh­nbereich gearbeitet hat und auf Grundsiche­rung angewiesen ist, bekommt keinen Cent mehr als jemand, der nie in die Rentenkass­e einbezahlt hat. Das ist eine gewaltige Gerechtigk­eitslücke. Arbeit sollte sich auch im Alter gelohnt haben.

Interview: Michael Pohl

„Die einen bestreiten, dass es Armut in Deutschlan­d gibt, die anderen stellen uns als eines der schlimmste­n Armutsländ­er hin. Das nervt.“Georg Cremer über die Armutsdeba­tte

 ?? Foto: Imago ?? Die Kunst des genauen Hinschauen­s und des Differenzi­erens: Georg Cremer kämpft seit langem dafür, die von verschiede­nen Sei ten sehr ideologisc­h geführte Diskussion über Armut in Deutschlan­d zu versachlic­hen.
Foto: Imago Die Kunst des genauen Hinschauen­s und des Differenzi­erens: Georg Cremer kämpft seit langem dafür, die von verschiede­nen Sei ten sehr ideologisc­h geführte Diskussion über Armut in Deutschlan­d zu versachlic­hen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany