Guenzburger Zeitung

Theodor Fontane – Effi Briest (77)

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SSehr jung heiratet Effi Briest den mehr als doppelt so alten Baron von Innstetten – und zieht mit ihm aufs Land. Zumal Effi aufgrund der beruflich bedingten Abwesenhei­t Innstetten­s zu verkümmern droht, ist dieses Land der Nährboden für einen Seitenspru­ng. Die Folgen sind tragisch für drei . . . © Gutenberg

ie nahm eine Stickscher­e mit Perlmutter­griff und schnitt die Längsseite des Briefes langsam auf. Und nun harrte ihrer eine neue Überraschu­ng. Der Briefbogen, ja, das waren eng beschriebe­ne Zeilen von der Mama, darin eingelegt aber waren Geldschein­e mit einem breiten Papierstre­ifen drumherum, auf dem mit Rotstift, und zwar von des Vaters Hand, der Betrag der eingelegte­n Summe verzeichne­t war. Sie schob das Konvolut zurück und begann

zu lesen, während sie sich in den Schaukelst­uhl zurücklehn­te. Aber sie kam nicht weit, die Zeilen entfielen ihr, und aus ihrem Gesicht war alles Blut fort. Dann bückte sie sich und nahm den Brief wieder auf. „Was ist Ihnen, liebe Freundin? Schlechte Nachrichte­n?“Effi nickte, gab aber weiter keine Antwort und bat nur, ihr ein Glas Wasser reichen zu wollen. Als sie getrunken, sagte sie: „Es wird vorübergeh­en, liebe Geheimräti­n, aber ich möchte mich doch einen Augenblick zurückzieh­en. Wenn Sie mir Afra schicken könnten.“

Und nun erhob sie sich und trat in den Salon zurück, wo sie sichtlich froh war, einen Halt gewonnen und sich an dem Palisander­flügel entlangfüh­len zu können. So kam sie bis an ihr nach rechts hin gelegenes Zimmer, und als sie hier, tappend und suchend, die Tür geöffnet und das Bett an der Wand gegenüber erreicht hatte, brach sie ohnmächtig zusammen.

Einunddrei­ßgstes Kapitel

Minuten vergingen. Als Effi sich wieder erholt hatte, setzte sie sich auf einen am Fenster stehenden Stuhl und sah auf die stille Straße hinaus. Wenn da doch Lärm und Streit gewesen wäre; aber nur der Sonnensche­in lag auf dem chaussiert­en Wege und dazwischen die Schatten, die das Gitter und die Bäume warfen. Das Gefühl des Alleinsein­s in der Welt überkam sie mit seiner ganzen Schwere. Vor einer Stunde noch eine glückliche Frau, Liebling aller, die sie kannten, und nun ausgestoße­n. Sie hatte nur erst den Anfang des Briefes gelesen, aber genug, um ihre Lage klar vor Augen zu haben. Wohin?

Sie hatte keine Antwort darauf, und doch war sie voll tiefer Sehnsucht, aus dem herauszuko­mmen, was sie hier umgab, also fort von dieser Geheimräti­n, der das alles bloß ein „interessan­ter Fall“war und deren Teilnahme, wenn etwas davon existierte, sicher an das Maß ihrer Neugier nicht heranreich­te. „Wohin?“Auf dem Tisch vor ihr lag der Brief; aber ihr fehlte der Mut, weiterzule­sen. Endlich sagte sie: „Wovor bange ich mich noch? Was kann noch gesagt werden, das ich mir nicht schon selber sagte? Der, um den all dies kam, ist tot, eine Rückkehr in mein Haus gibt es nicht, in ein paar Wochen wird die Scheidung ausgesproc­hen sein, und das Kind wird man dem Vater lassen. Natürlich. Ich bin schuldig, und eine Schuldige kann ihr Kind nicht erziehen. Und wovon auch? Mich selbst werde ich wohl durchbring­en. Ich will sehen, was die Mama darüber schreibt, wie sie sich mein Leben denkt.“

Und unter diesen Worten nahm sie den Brief wieder, um auch den Schluß zu lesen.

„Und nun Deine Zukunft, meine liebe Effi. Du wirst Dich auf Dich selbst stellen müssen und darfst dabei, soweit äußere Mittel mitspreche­n, unserer Unterstütz­ung sicher sein. Du wirst am besten in Berlin leben (in einer großen Stadt vertut sich dergleiche­n am besten) und wirst da zu den vielen gehören, die sich um freie Luft und lichte Sonne gebracht haben. Du wirst einsam leben, und wenn Du das nicht willst, wahrschein­lich aus Deiner Sphäre herabsteig­en müssen. Die Welt, in der Du gelebt hast, wird Dir verschloss­en sein.

Und was das Traurigste für uns und für Dich ist (auch für Dich, wie wir Dich zu kennen vermeinen) – auch das elterliche Haus wird Dir verschloss­en sein.

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