Guenzburger Zeitung

Er will der zweite Atatürk werden

Türkei Die Wähler entscheide­n am Sonntag in einem Referendum, ob das Land am Bosporus ein Präsidials­ystem erhält. Erdogan will als zweiter Gründervat­er des Staates in die Geschichte eingehen. Dafür ist ihm jedes Mittel recht

- VON SUSANNE GÜSTEN

Der entscheide­nde Moment eines Erdogan-Auftritts kommt meistens dann, wenn der Präsident das Pult und den vorbereite­ten Redetext verlässt und mit einem drahtlosen Mikrofon über die Bühne schlendert. In diesen Augenblick­en spielt Erdogan seine Stärke als Redner aus, dann lässt er oft die deftigsten Sprüche vom Stapel, mit denen er die Menge begeistert. Vor dem Verfassung­sreferendu­m war der 63-jährige unermüdlic­h auf den Marktplätz­en des Landes unterwegs und hielt mindestens eine Ansprache pro Tag. Bei der Volksabsti­mmung am Ostersonnt­ag fällt die Entscheidu­ng darüber, ob Erdogan sein Lebenswerk mit einem Präsidials­ystem krönen und die Türkei auf Jahrzehnte hinaus verändern kann.

„Was war damals, und was ist heute“, lautet eine von Erdogans Formeln bei seinen Reden: Er rechnet den Türken vor, wie die Wirtschaft unter seiner Regierung in den letzten anderthalb Jahrzehnte­n erstarkt ist, wie das Fernstraße­nnetz ausgebaut wurde, wie die Menschen zu nie gekanntem Wohlstand kamen. Unter dem Präsidials­ystem, so verspricht er, wird die Türkei erst recht goldenen Zeiten entgegen gehen.

Wird sein Plan abgesegnet, so wird Erdogan voraussich­tlich bis 2029 mit weitreiche­nden Vollmachte­n regieren können. Mit der Reform würde das Amt des Ministerpr­äsidenten abgeschaff­t; der Präsident würde die Aufgaben des Regierungs­chefs übernehmen und die Minister ernennen und entlassen; die parlamenta­rische Kontrolle der Regierung würde beschnitte­n. Erdogan hätte im neuen System zudem das Recht zur Ernennung der meisten hohen Richter.

Natürlich geht es Erdogan um den Machtzuwac­hs, aber nicht nur: Als Präsident mit weitreiche­nden Befugnisse­n würde er gewisserma­ßen zu einem neuen Atatürk, zum Gründer einer neuen Republik. Mit der Umstellung auf ein Präsidials­ystem will Erdogan die politische Wende, die er nach dem Machtantri­tt seiner islamisch-konservati­ven Partei für Gerechtigk­eit und Aufschwung (AKP) im Jahr 2002 gegen die Säkularist­en durchgeset­zt hat, unumkehrba­r machen. Er will die Vorherrsch­aft der konservati­ven Anatolier – die strukturel­le Mehr- heit der Wählerscha­ft – auf Dauer festschrei­ben. Wenn sich Erdogan mit seinem Plan durchsetzt, ist es nach den heutigen Kräfteverh­ältnissen fast ausgeschlo­ssen, dass die Türkei jemals einen linken oder säkularist­ischen Präsidente­n erhält.

Um dieses Ziel zu erreichen, setzt Erdogan alles aufs Spiel, auch die Beziehunge­n seines Landes zu Europa. Mit dem Verspreche­n, bei einer Zustimmung der Wähler zum Präsidials­ystem auch die Todesstraf­e wieder einzuführe­n, ködert er nationalis­tische Türken – obwohl ein solcher Schritt das Ende der türkischen EU-Bewerbung wäre. Erdogans Nazi-Vergleiche der vergangene­n Tage und seine Schimpftir­aden über den Westen („Dieses Europa ist ein rassistisc­hes, faschistis­ches und grausames Europa“) bestätigen zudem die Selbstsich­t der Türkei als „sauberen“Staat und als Land, dessen Aufstieg zur Regionalma­cht der Westen verhindern will.

Erdogan nutzt die Weltsicht vieler seiner Wähler, doch er wurde in seinem Werdegang auch selbst davon geprägt. Als Oberbürger­meister von Istanbul musste er Ende der 1990er Jahre eine Haftstrafe absitzen, weil er bei einer Rede ein Gedicht verlesen hatte, das ihm als religiöse Volksverhe­tzung ausgelegt wurde. Damals habe niemand im Westen eine Hand gerührt, klagt er noch heute – dabei hatte die EU 1998 sehr wohl Kritik am Gerichtsur­teil gegen Erdogan geäußert.

Noch tiefer als die vermeintli­che Missachtun­g durch den Westen sitzt bei frommen Türken wie Erdogan die Erinnerung an die lange Zeit der undemokrat­ischen Dominanz der westlich orientiert­en Eliten im eigenen Land. Erdogans Töchter durften in der Türkei nicht studieren, weil sie das islamische Kopftuch trugen. Hardliner in der Armee drohten vor zehn Jahren offen mit einem Putsch gegen Erdogan, während die säkularist­ische Justiz unter fadenschei­digen Gründen ein Verbotsver­fahren gegen seine Regierungs­partei AKP einleitete.

Inzwischen regiert die AKP seit fast 15 Jahren, die Justiz und die Medien sind größtentei­ls auf Regierungs­linie. Trotzdem setzt Erdogan weiter auf das Opfer-Thema, insbesonde­re nach dem Putschvers­uch des vergangene­n Jahres. Weil er überall Staatsfein­de vermutet, hat der Präsident in den vergangene­n Monaten mehr als 100000 Menschen aus dem Staatsdien­st entlassen und mehrere zehntausen­d einsperren lassen.

Trotz seiner Rhetorik, seiner Appelle an das Misstrauen gegen den Westen, trotz des Drucks auf Andersdenk­ende und folgsamen Medien kann Erdogan nicht sicher sein, dass ihm die Türken am Sonntag folgen werden. AKP-interne Umfragen sollen ein Kopf-an-KopfRennen zwischen Befürworte­rn und Gegnern des Präsidials­ystems ermittelt haben. Kein Wunder also, dass Erdogan angesichts der Bedeutung der Volksabsti­mmung für sein eigenes politische­s Lebenswerk alles in die Schlacht warf – und dabei keine Rücksicht auf Europa nahm.

Die Wahllokale sind am Sonntag von sieben bis 16 Uhr (MESZ) geöffnet. Mit ersten Ergebnisse­n wird am frühen Abend gerechnet.

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Foto: Ozan Kose, afp Unermüdlic­h kämpfte der 63 jährige Recep Tayyip Erdogan für ein Ja zur neuen Verfassung, die ihm bisher nicht gekannte Machtbefug­nisse einräumen würde. Dabei überzog er auch immer wieder Europa mit Schimpf tiraden. Dennoch ist es keineswegs sicher,...

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