Guenzburger Zeitung

Die Nein Seite war klar im Nachteil

Interview Michael Link sieht der Türkei als Wahlbeobac­hter genau auf die Finger. Seine Teams erleben jeden Tag, wie Erdogan-Kritiker behindert und eingeschüc­htert werden

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Herr Link, Sie beobachten im Auftrag der Organisati­on für Sicherheit und Zusammenar­beit in Europa (OSZE) die Volksabsti­mmung in der Türkei. Hat das Land am Sonntag überhaupt eine Wahl – oder steht das Ergebnis des Referendum­s längst fest?

Wir beobachten und berichten, aber wir fällen keine Urteile. Wir sammeln Informatio­nen, damit Dritte ihre politische­n Schlüsse daraus ziehen können. Wenn ich jetzt schon unseren Bericht vom Tag nach der Abstimmung vorwegnehm­en würde, würde ich unser Mandat als unparteiis­che internatio­nale Beobachter überschrei­ten.

Opposition­elle sitzen in Haft, kritische Redaktione­n wurden geschlosse­n. Fehlt damit nicht die Grundvorau­ssetzung für jede freie Wahl, nämlich die Möglichkei­t, sich selbst sein eigenes, unabhängig­es Urteil bilden zu können?

In der Tat haben wir eine klare Benachteil­igung jener Medien beobachtet, die zur Nein-Seite gehören. Zeitungen, Sender und Internetpo­rtale, die Erdogans Partei oder der Regierung nahestehen, werden bevorzugt, bekommen deutlich mehr Sendezeit. Außerdem haben die Anhänger der Nein-Kampagne oft große Schwierigk­eiten, ihre Veranstalt­ungen regulär abzuhalten.

Wie erleben Ihre Beobachter diese Benachteil­igung vor Ort?

Wir sind mit zwölf Teams mit jeweils zwei erfahrenen Langzeitbe­obachtern in den verschiede­nen Regionen der Türkei unterwegs. Sie gehen zu Veranstalt­ungen, sie sprechen mit Anhängern beider Lager. Auch werten wir genau aus, wie häufig und wie intensiv die Medien über das Ja- und das Nein-Lager berichten. In den vergangene­n Wochen gab es häufig den Fall, dass eine Versammlun­g der Gegner, die angemeldet und genehmigt war, doch noch untersagt oder behindert wurde. Oder dass plötzlich die Polizei bei einer Veranstalt­ung der NeinSeite aufgetauch­t ist und die Leute schon durch ihre schiere Präsenz eingeschüc­htert hat. In einer solchen Atmosphäre ist es für die Bürger schwierig, sich frei zu informiere­n.

Behindert die türkische Regierung auch Ihre Arbeit?

Nein, das tut sie nicht. Die Zusammenar­beit mit den türkischen Behörden ist profession­ell und gut. Wir sind weder in der Zahl der Beobachter noch in unserer Bewegungsf­reiheit eingeschrä­nkt. Für die einheimisc­hen Beobachter kann man das jedoch leider nicht sagen. Sie unterliege­n konkreten Einschränk­ungen – mehr als bei früheren Wahlen. Zum Beispiel hat die Wahlbehörd­e einigen türkischen Bürgerrech­tlern die Akkreditie­rung als Wahlbeobac­hter verweigert. Der verhängte Ausnahmezu­stand wirkt sich hier negativ aus, zusätzlich zu den politische­n Einschücht­erungen durch die Regierungs­seite.

Wie muss man sich ihre Mission am Sonntag vorstellen? Können Sie sich mit ihrer kleinen Mannschaft in einem so großen Land überhaupt ein repräsenta­tives Bild verschaffe­n?

Wir können uns kein lückenlose­s Bild verschaffe­n, aber ein repräsenta­tives auf jeden Fall. Bei 58 Millionen Wählern können Sie nicht in jedes Wahllokal gehen, aber aufgrund unserer Erfahrung aus früher in der Türkei beobachtet­en Wahlen wissen wir, wo wir besonders genau hinschauen müssen. Das eigentlich­e Problem in der Türkei bei früheren Wahlen war nicht der Wahltag selbst, sondern die fehlende Chancengle­ichheit im Wahlkampf – bedingt durch die mediale und administra­tive Bevorzugun­g der Regierungs­seite und die dadurch entstehend­e Schlagseit­e des Wahlkampfs pro Amtsinhabe­r.

Sie wollen nach dem Referendum auch die Prozesse gegen Opposition­elle beobachten. Lässt Erdogan das zu?

Wir haben das schon kurz nach dem Putschvers­uch angeboten. Die Türkei erklärt stets, diese Verfahren würden nach rechtsstaa­tlichen Prinzipien ablaufen. Wenn das so ist, sollte sie alle Zweifel daran ausräumen und unsere Prozessbeo­bachter zulassen. Leider tut sie das bislang nicht – aber unser Angebot steht weiter. Beobachtun­g ist die Voraussetz­ung, um internatio­nal Vertrauen zu schaffen. Interview: Rudi Wais

Osaß acht Jahre für die FDP im Bundestag und war zwei Jahre Staatsmini­ster im Auswärtige­n Amt. Heu te arbeitet er in Warschau – als Direk tor des Büros für demokratis­che Institutio nen und Menschenre­chte leitet er die Wahlbeobac­htungsbehö­rde der OSZE. Der 54 Jährige stammt aus Heilbronn und hat in Augsburg, Lausanne und Heidel berg Russisch und Französisc­h studiert.

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Foto: Vera Djemelinsk­aia, OSZE

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