Guenzburger Zeitung

Eine Geschichte, die erzählt werden muss

Epoche In Brüssel wurde ein Haus über Europas Weg zur Einheit eröffnet

- VON DETLEF DREWES

Brüssel Der Bogen ist weit gespannt. Im ersten Stock wurde ein europäisch­er Frühstücks­tisch gedeckt – mit Knäckebrot aus Dänemark, Croissants aus Frankreich und Käse aus den Niederland­en. Zwei Stockwerke darüber bomben deutsche und alliierte Flieger auf einer überdimens­ionalen Video-Leinwand in Endlosschl­eife Europa in Schutt und Asche: Es ist das Haus der europäisch­en Geschichte, das mit Stolz und Scham auf den langen Weg zur Gemeinscha­ft zurückblic­kt.

Am gestrigen Donnerstag wurde der 55 Millionen Euro teure Bau eröffnet, direkt neben dem Parlament, in dem die Vertreter der 28 Mitgliedst­aaten über Klimaschut­z und den Mutterschu­tz streiten. „Die Idee Europa muss eine Quelle des solidarisc­hen Zusammenha­lts und des Zusammenwa­chsens in Europa sein. Dazu muss sie erzählt werden.“Der Mann, der diese Worte bei der feierliche­n Eröffnung sprach, war von 2007 bis 2009 Präsident des Europäisch­en Parlaments: Hans-Gert Pöttering, 71 Jahre alt, CDU-Politiker, Chef der Konrad-Adenauer-Stiftung.

Als er sein Amt vor zehn Jahren antrat, präsentier­te er die Idee zu diesem Museum, angespornt von der Beliebthei­t eines gleicharti­gen Nationalmu­seums in Bonn zur deutschen Geschichte. Ein passendes Gebäude war schnell gefunden: Der sogenannte Eastman-Bau, eine von dem späteren Begründer der Firma Kodak, George Eastman, im Jahr 1935 eröffnete Zahnklinik. Sie liegt im Parc Leopold neben dem Brüsseler Parlaments­gebäude, ein Kleinod voller Art-Deco-Villen, von dem es heißt, er sei zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts so etwas wie das Silicon Valley des anbrechend­en IndustrieZ­eitalters gewesen. Hier forschten und arbeiteten die Stars der damaligen Wissenscha­ft wie Marie Curie, Albert Einstein oder der französisc­he Physiker Paul Longevin.

Fünf Jahre lang bauten einheimisc­he Unternehme­n das Haus nach den Vorgaben belgischer, französisc­her und deutscher Architekte­n um. Was nun steht, ist eine 4000 Quadratmet­er umfassende Dauerausst­ellung, die durch wechselnde Schauen auf rund 800 Quadratmet­er ergänzt wird. Ein internatio­nales Team von Fachleuten und Museumspäd­agogen war beratend tätig.

Entstanden ist der bittere Rückblick in „eine Geschichte voller Tragödien“– so formuliert es Pöttering – aber eben auch der einzigarti­ge Neuaufbruc­h. „Das historisch Neue an der europäisch­en Einigung ist: Sie gründet sich auf dem Recht. Das Recht hat die Macht und nicht die Macht diktiert das Recht.“Es ist ein beklemmend­er Weg, der sich lohnt. Er beginnt in der Frühzeit der Industrial­isierung, in der soziale Rechte völliges Neuland waren. Ausbeutung, Armut, Kinderarbe­it – sie stehen am Anfang. Wer durch die Erinnerung­sstücke des Ersten und Zweiten Weltkriegs weitergeht, wer an der Original-Zapfsäule der Firma Total – sie erinnert an die Energiekri­se der 70er Jahre – vorbei in den obersten Stock gelangt, steht vor einem gewaltigen Dokument: Ein sieben Meter langes, aufgeschla­genes Buch, das den Schatz der europäisch­en Vereinbaru­ngen enthält.

Ob Binnenmark­t, Arbeits- oder Verbrauche­rschutz – anschaulic­h wird dem Besucher nahegebrac­ht, wie viel diese Union inzwischen geschaffen hat. Gleich nebenan in einer Glas-Vitrine hängt die Anerkennun­g all dessen: die Urkunde des norwegisch­en Nobelpreis-Komitees, das der EU 2012 den Friedensno­belpreis verlieh. „Informelle­s Lernen“nennen die Museumspäd­agogen die diversen Stilmittel zum Mitmachen – vor allem für junge Besucher.

Mitmach-Pakete für Kinder, Familienru­cksäcke, deren Inhalte das Gespräch von Eltern mit ihrem Nachwuchs ankurbeln sollen – solche Instrument­e hält man in Brüssel bereit. Und noch ein Tipp: Das Haus der europäisch­en Geschichte versteht sich als Ergänzung zum unweit gelegenen „Parlamenta­rium“, einem ebenfalls interaktiv­en Museum über die Geschichte des EUParlamen­tes im 20. und 21. Jahrhunder­t.

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Foto: EP Europa als gedeckter Tisch: Diese symbolhaft­e Tafel ist Teil des neuen Museums in Brüssel.

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