Wo Picasso seinen Stammplatz hatte
Frankreich Das Restaurant „La Colombe d’Or“in St. Paul de Vence hat einen legendären Charme
sind die Tischplatten nackt. Aus schlichtem Holz, abgewetzt manche, nicht mehr unter edlem weißen Leinen verborgen, nicht mehr im edlen Look der Côte gehalten. Schöner Schein war vorher. Irgend jemand hat ihnen in Windeseile das Leinen abgezogen, kaum dass die letzten Gäste gegangen waren, sich losgerissen hatten vom Blick über die Teller mit gegrillten Pfefferschoten mit Olivenöl, über Seebrassen mit provençalischen Tomaten hinweg und an Koniferen vorbei ins Tal mit den Olivenbäumen. Ruhe bis zum AbendAnsturm. Bis wieder alles herausgeputzt und neu eingedeckt sein wird auf der Terrasse der Goldenen Taube – von „La Colombe d’Or“wenige Schritte vorm mittelalterlichen Stadtkern von St. Paul de Vence. Auf allen hundert Plätzen im Freien hinter den Mauern, die all das uneinsehbar von der Straßenseite abschirmen.
Für zwei, drei Stunden kommt das Restaurant im unmittelbaren Hinterland der Côte d’Azur zur Ruhe – irgendwann so gegen vier, halb fünf am Nachmittag, wenn die letzten Mittagsgäste gegangen oder wieder auf ihren Zimmern verschwunden sind und bevor so gegen sieben die ersten auf einen Aperitif Platz nehmen.
Es sind die Stunden, in denen das Restaurant Atem zu holen scheint. Die Stunden, in denen Patron François Roux einen Moment Zeit hat, sich selbst mal zu setzen und ein paar Sätze zu plaudern. Dort, wo einst Stammgast Marc Chagall saß, der fünf Autominuten von hier gewohnt und gearbeitet hat: auf einem hellen Kissen auf der Steinbank direkt am Haus. Dort, wo erst Signac und Soutine, später Henri Matisse und Picasso, auch Braque und Fernand Léger einkehrten. Es war ihr Lokal – eines, das Künstler seit der Eröffnung 1931 irgendwie anzog. Nach und nach bekamen auch all die anderen Prominenten Wind, die solche Spots lieben: die französischen wie die Dichter Jacques Prévert, Sartre und Simone de Beauvoir, Schauspieler wie Yves Montand und Brigitte Bardot, die internationalen Kino-Größen wie Orson Welles und David Niven, Roger Moore und Tony Curtis.
Warum all die Künstler hier einkehrten? Bestimmt war es wegen des Essens, der herzhaften provençalischen Küche ohne Schnickschnack, der Gespräche, wegen der Atmosphäre, die François Roux’ Großvater Paul und seine Oma Benedictine hier schufen und die später seine Eltern Francis und Yvonne weiter befeuerten. Und sowieso war es wegen dieser Luft, diesem Ge- ruch nach Blüten und Wacholder. Und weil St. Paul de Vence schon immer ein Bilderbuchort war. Monsieur Roux, Betreiber in nunmehr dritter Generation, zuckt mit den Schultern, sagt dann: „Wie schön, dass es so gekommen ist.“Jetzt leuchten seine hellblauen Augen.
Die Künstler haben ihre Spuren hinterlassen. In seiner Erinnerung und darüber hinaus – denn als Kind hat der heutige Patron des Hauses, Jahrgang 1953, sie alle erlebt. Er weiß, wie Picassos Stimme klang, er kennt den Händedruck von Marc Chagall, das Lächeln von Miró. Sie alle ließen Bilder in seinem Kopf zurück – und sie hinterließen Werke, die heute im Restaurant an den Wänden hängen: millionenschwere Schätze von Museumsrang, nicht bloß flüchtige Skizzen auf übrig gebliebenen Papier-Servietten. Die Privatsammlung der Familie ist allgegenwärtig. Im Restaurant. Im Hotel. Im Speiseraum. In den Fluren. Drinnen und draußen. Sogar am Pool. Dort steht eine Skulptur von Alexander Calder, nicht weit davon gibt es ein Mosaik von Braque. Und dann setzt François Roux sich draußen zwischen den noch immer nackten Holzplatten auf seinen Lieblingsplatz: vor eine Steinwand, an der seit 1952 eine Keramik von Fernand Léger prangt.
Wie die nächsten Wochen aussehen werden? Kaum anders als dieser Tag. „Je regrette, Monsieur“, hatte die Mitarbeiterin an der Rezeption gerade einem Anrufer entgegengeflötet. Zum werweißwievielten Mal an diesem Tag: „Ich bedauere, ich kann Ihnen leider keinen Tisch anbieten. Wir sind im Moment vier Wochen im Voraus ausgebucht.“Und nach einer Rückfrage: „Ja, mittags und abends.“Und nach noch einer Intervention: „Ein Zimmer? Nein, ich bedauere, das Hotel ist ausgebucht.“François Roux kennt das: „Im Winter ist es einfach, einen Tisch bei uns zu bekommen. Im Frühjahr und Herbst ist es kein großes Problem. Aber im Sommer?“Wieder zuckt er mit den Schultern. Und wenn jetzt einer wie Chagall anriefe? „Dann sind wir ebenfalls ausgebucht.“
Was die Gaststätte von manchem Saal im Museum of Modern Art oder dem Guggenheim unterscheidet? Eigentlich nur, dass dort niemand traditionell provençalisch kocht. Hier wird zwischen den Kunstwerken gelebt: als wären sie nicht da. Oder als gehörten sie dazu. Einen Aufseher? Gibt es nicht. Die Fenster? Stehen jetzt am späten Nachmittag sperrangelweit offen – auch die zur Straße.
Und was ist dran an all den Geschichten, dass die Künstler-GröNachmittags ßen gerne mit Bildern bezahlten? „Eine Legende mit 20 Prozent Wahrheitsgehalt“, sagt Roux. Einige Bilder sind Geschenke von Freunden, andere haben Großvater und Vater gekauft. Und was niemals als Gegenwert gemeint war, das sind die Signaturen im Gästebuch. Es enthält Skizzen von Miró, von Picasso, von Francis Picabia – als Dankeschön, als Ausdruck der Freude.
Der Lieblingsplatz von Chagall, der fast Nachbar war und jahrzehntelang mehrmals im Monat zum Essen herkam? „Meist war er mittags da. Und am liebsten saß er im Freien.“Er deutet mit der Rechten auf eine Bank und einen Tisch gleich neben der Eingangstür. Ein Platz auf dem Präsentierteller für den eher scheuen Chagall? „Kein Problem, die meisten kannten seine Kunst, aber nicht sein Gesicht. Er konnte bei uns ungestört essen.“
All die Gäste von einst haben würdige Nachfolger gefunden – Künstler wie der Regisseur Julian Schnabel und Christo zum Beispiel. Und, besonders schön, Menschen, die im Sommer vier Wochen im Voraus einen Tisch reserviert haben. Für sie tragen sämtliche Tischplatten um kurz vor sieben ein neues Gewand – auch der, wo eben noch François Roux Atem holte und in den Erinnerungen kramte. Für den kurzen Moment zwischen Mittagund Abendessen in der Goldenen Taube von St. Paul de Vence.
Doppelzimmer im „La Colombe d´Or“(www.la colombe dor.com, Tel. 0033/4/93328002) ab 335 €, Mittagstisch ab 25 €, Hauptgericht abends ab 30 ¤, DZ im „L´Hostel lerie les Remparts“(www.hostellerie lesremparts.com, Tel. 0033/4/93240640) ebenfalls in St.Paul de Vence ab 60 €.
Französische Zen trale für Tourismus, Postfach 100128 in 60001 Frankfurt/M., www.france.fr, außerdem www.cotedazur tourisme.com.