Guenzburger Zeitung

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (32)

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Solche so genannten „Widmungsex­emplare“seien bei Sammlern sehr begehrt, sagte Tom, und erzielten daher stets gute Preise. Ausflüge dieser Art, sagte er, gefielen ihm an seiner Arbeit für Harry am besten. Sie erlaubten ihm nicht nur, den engen Bezirk seines Arbeitspla­tzes in Brooklyn zu verlassen, sondern gäben ihm auch die Möglichkei­t, seinen Chef in Aktion zu erleben. „Er zieht eine ziemliche Show ab“, sagte er. „Redet unaufhörli­ch. Feilscht unaufhörli­ch. Schmeichel­t, verunglimp­ft, säuselt – ein Feuerwerk von Tricks und Täuschungs­manövern. Ich glaube nicht an die Reinkarnat­ion, aber wenn ich es täte, würde ich schwören, dass er in einem früheren Leben ein marokkanis­cher Teppichhän­dler war.“

Mittwoch war Marinas freier Tag. Ohne Toms Begleitung freute ich mich besonders darauf, sie am Donnerstag zu sehen, aber als ich um ein Uhr den Cosmic Diner betrat, war sie nicht da. Ich sprach mit Dimitrios, dem Betreiber des Restaurant­s,

und erfuhr von ihm, dass sie sich am Morgen telefonisc­h krank gemeldet hatte und wahrschein­lich die nächsten Tage nicht kommen würde. Es war geradezu lächerlich, wie sehr mich das niederschl­ug. Nach der Standpauke, die meine Exfrau mir am Abend zuvor gehalten hatte, musste ich meinen Glauben an das weibliche Geschlecht dringend wieder aufrichten, und wer konnte mir dabei besser helfen als die sanftmütig­e Marina Gonzalez? Auf dem Weg zum Restaurant hatte ich mir ausgemalt, dass sie die Halskette tragen würde (wie sie es am Montag und Dienstag getan hatte) und dass allein ihr Anblick Balsam für meine Seele wäre. Nun also setzte ich mich schweren Herzens an einen freien Tisch und gab meine Bestellung bei Dimitrios auf, der meine abwesende Liebe vertreten musste. Wie immer hatte ich ein Buch in der Jackentasc­he (Zenos Gewissen, das ich mir auf Toms Empfehlung angeschaff­t hatte), und da ich an diesem Tag niemanden zum Reden hatte, schlug ich Svevos Roman auf und begann zu lesen.

Nach zwei Absätzen klopfte der Ärger bei mir an die Tür. Ich habe bereits fünfzehn oder zwanzig Seiten zuvor darauf angespielt, und jetzt, da der Augenblick gekommen ist, wo ich davon zu sprechen habe, schaudert es mich bei der Erinnerung daran. Diese Person, dieses Etwas, das ich Ärger nenne, dieser Albtraum, der sich aus den Tiefen des Nichts erhob, erschien in Gestalt eines dreißigjäh­rigen UPS-Boten, muskulös, gut gebaut und mit Zorn in den Augen. Nein, Zorn erfasst nicht ganz, was ich in dieser Miene sah. Rage trifft es vielleicht genauer, oder Raserei, wenn nicht gar mörderisch­e Wut. Wie auch immer, als er ins Restaurant gestürmt kam und mit lauter, hitziger Stimme von Dimitrios zu wissen verlangte, ob Nathan da sei, Nathan Glass, war mir sofort klar, dass dieser personifiz­ierte Ärger den Namen Roberto Gonzalez trug. Ebenso wusste ich, dass die Kette nicht mehr in der Kasse lag. Die arme Marina hatte vergessen, sie abzunehmen, als sie am Dienstagab­end nach Hause ging. Ein kleiner Fehler, mag sein, aber ich musste unwillkürl­ich daran denken, wie sie das Wort bumm benutzt hatte, als sie mein Geschenk abzulehnen versuchte, und als ich das mit Dimitrios’ Erklärung zusammenhi­elt, dass sie „die nächsten Tage nicht kommen“werde, konnte ich mich nur noch fragen, wie übel dieser Mistkerl sie zusammenge­schlagen hatte.

Marinas Mann pflanzte sich auf die Bank mir gegenüber und beugte sich über den Tisch. „Sind Sie Nathan?“, fragte er. „Nathan Drecksau Glass?“

„Richtig“, sagte ich. „Aber mein zweiter Vorname ist nicht Drecksau. Sondern Joseph.“

„Okay, Klugscheiß­er. Warum hast du das getan?“„Was denn?“Er griff in seine Tasche und knallte die Kette auf den Tisch. „Das.“

„Das war ein Geburtstag­sgeschenk.“„Für meine Frau.“„Ja. Für Ihre Frau. Was ist schon dabei? Marina serviert mir jeden Tag das Mittagesse­n. Sie ist eine wunderbare Frau, und ich wollte ihr meinen Dank erweisen. Trinkgeld bekommt sie auch jedes Mal von mir. Betrachten Sie die Kette einfach als ein besonders großes Trinkgeld.“

„So was tut man nicht, Mann. Man macht nicht mit verheirate­ten Frauen rum.“

„Ich mache nicht mit ihr rum. Ich habe ihr nur ein Geschenk gemacht, nichts weiter. Ich bin so alt, ich könnte ihr Vater sein.“

„Einen Schwanz hast du aber, ja? Und Eier bestimmt auch.“

„Als ich das letzte Mal nachgesehe­n habe, war noch alles da.“

„Ich warne dich, Mister. Finger weg von Marina. Die Schlampe gehört mir, und ich bring dich um, wenn du sie noch einmal anquatschs­t.“

„Sagen Sie nicht Schlampe zu ihr. Sie ist eine Frau. Und Sie haben verdammtes Glück, mit ihr verheirate­t zu sein.“

„Ich sage zu ihr, was ich will, Arschloch. Und das hier“, sagte er, hob das Goldkettch­en auf und ließ es vor meinen Augen baumeln, „diesen Scheiß kannst du morgen zum Frühstück essen.“Er packte es mit beiden Händen und riss es mit einem scharfen Ruck entzwei. Einige Perlen glitten von der Kette und sprangen auf dem Resopaltis­ch herum; andere blieben an seiner Handfläche kleben, und als er aufstand, schleudert­e er sie mir ins Gesicht. „Das nächste Mal bring ich dich um!“, brüllte er und stach wie eine geistesges­törte Marionette mit dem Finger auf mich ein. „Finger weg von ihr, du Schwein, oder du bist tot!“Inzwischen starrten alle im Restaurant uns an. Es geschah nicht jeden Tag, dass man sich zum Essen setzte und ein solch fesselndes Schauspiel geboten bekam, aber nachdem Gonzalez mir Bescheid gestoßen hatte, schien die Sache beendet. Dachte ich jedenfalls. Er hatte sich bereits von mir abgewandt und stapfte in Richtung Ausgang, aber der Weg zwischen den Tischen war eng, und bevor er endgültig verschwind­en konnte, hatte sich der breite Hüne Dimitrios vor ihm aufgebaut. Damit begann der zweite Akt. In die Enge getrieben, noch wutentflam­mt und völlig überreizt, kreischte Gonzalez mit sich überschlag­ender Stimme: „Diesen Drecksack lässt du hier nicht mehr rein!“(Er meinte mich.) „Du lässt ihn nicht mehr hier rein, oder Marina arbeitet hier nicht mehr. Sie kündigt!“

„Dann kündigt sie eben“, sagte der Inhaber des Cosmic Diner. „Das ist mein Restaurant, und ich lasse mir von niemand sagen, was ich in meinem Restaurant zu tun habe. Ohne meine Kundschaft habe ich nichts. Also schwing deinen Arsch hier raus und sag Marina, sie ist gefeuert. Ich will sie nicht mehr sehen. Und du – wenn du dich nochmal hier blicken lässt, hol ich die Polizei.“

Nun kam es zu einer kleinen Schubserei, aber so kräftig und muskulös Gonzalez auch sein mochte, Dimitrios war einfach eine Nummer zu groß für ihn.

 ??  ?? Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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