Guenzburger Zeitung

Heimatlos im Urlaubspar­adies

Italien Sie wohnen im Hotel, der Strand ist direkt vor der Tür, man könnte es aushalten in San Benedetto del Tronto. Doch Elisa Vittori und 600 Leidensgen­ossen sind nicht freiwillig an der Adria. Sie sind Erdbebenop­fer aus Accumoli – und inzwischen auch n

- VON JULIUS MÜLLER MEININGEN

Darf man Musik machen, wenn gerade die Welt untergegan­gen ist? Nein, das geht nicht, dachte Elisa Vittori zuerst. In der provisoris­chen Zeltstadt von Accumoli wohnten Leute, die wenige Tage zuvor ihre Familienmi­tglieder beim Erdbeben verloren hatten und deshalb in tiefer Trauer waren. 299 Menschen starben im vergangene­n August in Mittelital­ien, ganze Dörfer wurden dem Erdboden gleichgema­cht. Es galt, mit Stille Respekt zu zollen, den Opfern von Accumoli und ihren Angehörige­n. Die Blaskapell­e sollte schweigen, dachte Elisa. Oder doch nicht?

Wäre es nicht auch dem Schlagzeug­er Andrea und seinen Verwandten gegenüber falsch gewesen, einfach ohne ihn weiterzuma­chen? In der Nacht des 24. August, als der Boden unter Accumoli bebte, erschlug der gerade erst renovierte Kirchturm des Ortes Andrea, seine Frau und die beiden kleinen Söhne im Schlaf. „Wir dachten, es ist besser zu warten“, sagt Elisa, die schon als zehnjährig­e Klarinetti­stin in der Band von Accumoli anfing und vor kurzem 18 Jahre alt geworden ist.

An diesem Abend, etwa zwei Wochen nach dem Beben, als es um den Tod, um Pietät und um die Frage ging, wie viel Leben und Neuanfang schon möglich sind, befand sich auch Giuseppe Scurci im Zelt. Der Psychologe war mit Kollegen am Tag nach der Katastroph­e aus Rom nach Accumoli gekommen, um zu helfen. Als er mitbekam, dass Elisa und ihre Musikerkol­legen unsicher waren, ob an diesem letzten Abend im Großraumze­lt wirklich musiziert werden sollte, da mischte er sich ein. „Musizieren kann helfen, euch und den anderen“, sagte Scurci.

Wenig später holten ein paar Mitglieder der Blaskapell­e ihre Instrument­e hervor und improvisie­rten. Auch Elisa war dabei. Es klang ein bisschen schräg, aber zu „When the Saints go marching in“tanzten die Leute kurz darauf Polonaise. „Das war auch für uns das Zeichen: Es ist nicht vorbei“, erzählt Elisa.

„Eine Blaskapell­e, die spielt, ist ein Symbol für ein Dorf, das lebt“, sagt Giuseppe Scurci heute. Accumoli lebt, das stimmt. Allerdings wurde die gesamte, etwa 600 Menschen umfassende Dorfgemein­schaft an die Adria verpflanzt, ins etwa 80 Kilometer entfernte Städtchen San Benedetto del Tronto, die sogenannte Hauptstadt der Palmenrivi­era. Der 35-jährige Scurci, Generalsek­retär des spendenfin­anzierten Vereins Psyplus, zog mit ans Meer. Heute kümmern sich vier Psychologe­n und ein Dutzend anderer Betreuer im Küstenstäd­tchen um die Menschen aus Accumoli.

Das ganze Dorf ist seit September hier untergebra­cht – in Hotels. Der italienisc­he Staat trägt die Kosten für die obdachlos Gewordenen, etwa 20 000 waren es zu Beginn. Jetzt naht der Sommer, der Strand liegt nur eine Minute zu Fuß entfernt. Die Drei-Sterne-Bleibe, in der sich Elisa Vittori ein Zimmer mit ihrem Bruder teilt, trägt den Namen „Hotel Relax“– was allerdings wie Hohn klingt, wenn man sich von den Betroffene­n aus ihrem Alltag erzählen lässt.

Der Zug zum Beispiel. Direkt hinter dem Hotel führen die Bahngleise entlang. Es hört sich wie Donner an, wenn der Regionalzu­g vorbeisaus­t. „Am Anfang hat das bei mir Panik ausgelöst“, erzählt Livia Micozzi, eine Kindergart­enfreundin von Elisa Vittori aus einem Weiler bei Accumoli. Noch heute gehen manche einen kilometerl­angen Umweg, um den Bahntunnel beim Hotel zu meiden. Dass nun die Badesai- beginnt, ist zwar schön. Viele Hotels haben die Menschen aus dem Erdbebenge­biet aber nur unter der Bedingung aufgenomme­n, dass sie Ende Mai wieder verschwind­en. Nun kommen die Touristen, mit denen die Hoteliers mehr verdienen. Sie müssen außerdem Verträge mit Reiseagent­uren einhalten. Aber viele Menschen aus Accumoli wissen nicht wohin.

Alle Häuser, die im Erdbebenge­biet noch stehen, sind unzugängli­ch. Neun Monate nach der Katastroph­e werden erst langsam die ersten hölzernen Fertighäus­er aufgestell­t, oft eingerahmt von schaurigen Ruinen. Die Arbeiten haben mit Verspätung begonnen. Accumoli wird wieder umziehen, so viel steht fest. Nur wohin?

„Vielleicht verpflanze­n sie uns in ein anderes Hotel im Landesinne­rn, ich weiß es nicht“, sagt Livia. Sie weiß auch nicht, ob sie überhaupt zurückwill, in ein erdbebensi­cheres, aber steriles Häuschen in der Nähe des Dorfes, umgeben von Trümmern, ohne jede Möglichkei­t des Zeitvertre­ibs. Sie könnte auf Dauer am Meer bleiben, aber wo genau und mit welchem Geld?

Livia war in der Nacht des Unglücks mit Freunden im Freien. Plötzlich gingen die Lichter aus, ein schwerer Donner hob an, die Erde begann zu beben, als sei eine Bombe explodiert. Dann fielen die Häuser in sich zusammen. „Ich dachte: Aber da sind doch Leute drin! Ich wusste genau, wer in welchem Haus schlief. Wir kennen uns alle.“Menschen wurden erdrückt, Livia und ihre Familie überlebte. Aber der 18-Jährigen wurde der Boden unter den Füßen weggezogen in einer Leson bensphase, in der die meisten noch Halt brauchen. Sie weiß nicht wohin. Hierbleibe­n? Zurückgehe­n? Vielleicht nach Padua zu ihrer Schwester ziehen? In die Schule geht sie kaum noch, sagt Livia, sie habe eine Blockade.

Giuseppe Scurci weiß, wie die zusätzlich­e, durch die erneute Verpflanzu­ng drohende Unsicherhe­it bei den Menschen wirkt. „Ihre Traumata, die viele langsam in den Griff bekommen, werden wieder wach gerufen oder verstärkt“, sagt der Psychologe. Die einen reagieren mit Erinnerung­slücken, um sich vor der Vergangenh­eit zu schützen, andere mit Aktionismu­s, um der Realität zu entkommen. Alle haben Ängste, fühlen sich ausgeliefe­rt und sind extrem empfindlic­h.

Scurci und seine Kollegen drehen ihre Runden in den Hotels, lassen sich auf Gespräche ein, schon ein banales „Wie geht’s?“kann in der paradiesis­chen Desolation zwischen Kreuzwortr­ätseln und Tunnelblic­k aufs Smartphone weiterhelf­en. Die Psychologe­n bieten in einer ehemaligen Schule beim Hotel Relax kostenlos Einzelgesp­räche, Familienod­er Gruppenthe­rapie an, dazu Workshops für die Jüngeren, Fotografie, Recyclingk­unst, Musik.

Immer samstags, wenn genügend Leute kommen, probt auch die Blaskapell­e in der Schule. Ein Musikgesch­äft spendete neue Instrument­e, die Noten konnten Elisa und die anderen aus den Trümmern retten. Sie liegen nun in einer Vitrine in der ehemaligen Schule von San Benedetto, auf der jemand ein Stück Putz aus dem zerstörten Probensaal von Accumoli platziert hat. Als beinahe überflüssi­ge Erinnerung an die Katastroph­e. Jeder hier trägt das Unglück mit sich herum.

60 bis 70 Leute, darunter auch Elisa und Livia, die beim FotoWorksh­op mitmachen, nehmen das Angebot der Psychologe­n an. Zwischen Elisa, Livia, vielen anderen und den jungen Helfern von Psyplus ist ein Verhältnis freundscha­ftlicher Solidaritä­t entstanden. Die Verbundenh­eit geht so weit, dass Giuseppe Scurci mit seinem Saxofon inzwischen bei den Proben und Konzerten der Blaskapell­e mitspielt. „Sie lassen uns nicht allein“, sagt Elisa.

Das ist offenbar auch notwendig, denn das Monster kehrt immer wieder zurück. An einem Sonntag Ende Oktober war die Kapelle von Accumoli auf dem Weg zu einem Blaskonzer­t in Rom. Auf dem Weg durchs Erdbebenge­biet machte die Gruppe Rast, um auf andere Musiker zu warten. Plötzlich begann der Bus zu wackeln, die noch stehenden Häuser des schon im August schwer beschädigt­en Dorfes Arquata del Tronto brachen vor Elisas Augen zusammen. Sie hatte Todesangst. „Es war, wie einen Schritt nach vorne zu gehen und zehn zurück“, sagt Psychologe Scurci. Am 19. Januar folgte erneut ein schweres Erdbeben in der Gegend, das bisher letzte.

Elisa will zurück. Sie will beim Wiederaufb­au mithelfen. Das Haus der Familie ist beschädigt, aber Elisas Vater ist Maurer und wird das Haus schon wieder herrichten, hofft sie. „Sobald ich auch nur ein bisschen Zeit habe, fahre ich hoch in die Berge“, sagt sie. Auch sie konnte sich in der Schule lange nicht konzentrie­ren, jetzt nimmt sie einen mutigen Anlauf aufs Abitur.

Wenn möglich, geht sie zu den Proben der Kapelle, auch bei den anstehende­n Konzerten will sie dabei sein. Die Blaskapell­e Accumoli wird nach ganz Italien eingeladen, demnächst spielt sie im Aostatal, bei Bologna, Verona und Brescia. Die Auftritte sind kein Zeitvertre­ib oder Ablenkung. Sie sind der Beweis dafür, dass Accumoli noch lebt.

Darf man in solch einem Moment Musik machen? Das Monster kehrt immer wieder zurück

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Fotos: Max Intrisano

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