Er schreibt, was Tausende singen
Künstlerkarrieren (17) Die Vokalwerke, die der Allgäuer Wolfram Buchenberg komponiert, stehen auf den Programmen ungezählter Chöre. Die nächste Uraufführung ist schon in Sicht
Gespannt wird Wolfram Buchenberg am Pfingstsamstag im Modeon sitzen. Im Marktoberdorfer Konzertsaal hört er Musik, die er komponiert – aber bis dahin noch nie gehört hat. Der 54-Jährige schrieb das Pflichtstück für den Kammerchor-Wettbewerb in der Kategorie „gemischte Chöre“. Allerdings will Buchenberg gar nicht so genau wissen, wie das Werk, dem er den Titel „The Emigrant“gab, klingt. Das kann er sich sehr gut im Kopf vorstellen. „Für mich ist viel spannender, wie die Chöre das Stück interpretieren.“
Auch die Bundesvereinigung Deutscher Chorverbände als Veranstalter des vokalen Kräftemessens kennt das Stück noch nicht. Ein Risiko gingen die Wettbewerbs-Veranstalter freilich nicht ein, als sie den Auftrag an Wolfram Buchenberg vergaben. Der Komponist aus dem Dörfchen Engelpolz bei Kranzegg (Oberallgäu) gehört seit vielen Jahren zu den Herausragenden seiner Zunft. Schon 2015 steuerte er ein Pflichtstück für den renommierten Marktoberdorfer Wettbewerb bei. Seine Werke stehen auf den Programmen vieler Amateur- und Profi-Chöre. Bei deutschen ChorWettbewerben sei er der meistaufgeführte lebende Komponist, sagt er. Als Papst Benedikt 2006 zu Besuch in Deutschland war, erklang bei einer Messe auch eine Buchenberg-Motette. Er schreibt aber nicht nur Vokalwerke, sondern auch für Orchester und andere Besetzungen. Die genaue Opuszahl kennt er selbst nicht, er führt nicht Buch. Sie liegt irgendwo zwischen 100 und 200.
Die acht internationalen TopChöre, die in Marktoberdorf um Preise kämpfen, werden vier Minuten lang die Sorgen und Nöte eines irischen Auswanderers besingen. „Der Karren vor der Tür ist angespannt, und uns bleibt keine Zeit zum Tanzen mehr“, lauten die ersten Zeilen. Buchenberg hat das vierstrophige Gedicht „The Emigrant“des Iren Joseph Campbell. Schon vor vielen Jahren entdeckte er den Text in einem Irland-Lesebuch. Dass er gerade jetzt darauf zurückgriff, hat auch mit der Flüchtlingsproblematik zu tun. „Das berührt mich sehr“, sagt Buchenberg. Als ihn die Gema-Stiftung im Herbst 2015 auszeichnete, ließ er das Preisgeld von 12 000 Euro in ein Integrationsprojekt mit geflüchteten und einheimischen Kindern im Oberallgäu fließen.
Entstanden ist „The Emigrant“in München und Engelpolz. Zwischen diesen beiden Orten pendelt Buchenberg. Während des Semesters wohnt er in München – in einer 20-Quadratmeter-Wohnung. Buchenberg unterrichtet halbtags an der Musikhochschule, wo er angehenden Gymnasiallehrern zeigt, wie sie Lieder begleiten und improvisieren. In Engelpolz hat sich der Sohn eines Bauern ähnlich bescheiden eingerichtet: Dort lebt er in einer kleinen Dachwohnung des Austragshauses. Der Wohnraum mit kleinem Esstisch ist zugleich Küche und Arbeitszimmer.
Unter dem Dachfenster, das einen schönen Ausblick auf den Grünten bietet, steht ein kleiner Bösendorfer-Flügel. Dort arbeitet er so lange an Melodien, Harmonien und Rhythmen, bis in seinem Kopf ein paar Takte stehen. Dann wechselt er zum Schreibtisch, schreibt die Musik mit Bleistift aufs Notenpapier. Einen Radiergummi nutzt er selten.
Das Rüstzeug hat Buchenberg in Marktoberdorf am musischen Gymnasium erhalten. Wie so viele andere wurde er von Arthur Groß geprägt, dem charismatischen Musikerzieher und Chorleiter. „In seinen Wirkungskreis zu kommen, rechne ich zu den Glücksfällen meines Lebens.“Nach dem Abitur plante Buchenberg, Musiklehrer zu werden. Erst spät, am Ende des Studiums, begann er zu komponieren. Als der Madrigalchor der Musikhochschule München 1993 mit zwei seiner Kompositionen beim BBC-Wettbewerb in London den ersten Preis gewann, war das für ihn wie ein Paukenschlag.
Seither hat sich Buchenberg mit immer neuen Werken einen exzellenten Ruf in der Chorwelt erarbeitet. Vermutlich, weil er es schafft, anspruchsvolle zeitgenössische Musik zu schreiben, die dennoch gut hörbar ist. Auch renommierte Ensembles wie der Chor des Bayerischen Rundfunks haben seine Werke im Repertoire. Wenn sie dann, wie neulich im ausverkauften Münchner Prinzregententheater, erklingen, sei dies ein Höhepunkt in seinem Komponistenleben, sagt Buchenberg. Beim Komponieren orientiert er sich einerseits am mittelalterlichen Tonsetzer Perotin. Bei dessen Musik spüre er „den Hauch der Ewigkeit“. Andererseits ist der Romantiker Anton Bruckner eine Inspirationsquelle. „Ich bin vernarrt in den Klang“, sagt er. Kompositionstechnisch hält er sich gerne an die modalen Skalen von Olivier Messiaen, mit dem ihn er auch eine tiefe Religiosität verbindet.
Von überall aus der Welt erhält Buchenberg Anfragen für Auftragswerke. Allerdings: „Ich sage mehr ab als zu.“Der Mann mit den kurzen grauen Jahren und der randlosen Brille will kein Arbeitstier sein. Das bewahrt ihn nicht vor Zeitnot. Derzeit komponiert er ein ZehnMinuten-Werk für einen Frauenchor aus der Pfalz, im Herbst soll es aufgeführt werden. Buchenberg muss sich sputen.