Vom Krieg gezeichnet
Augenzeuge Ein junger Syrer aus Krumbach hat die Anfänge der Revolution miterlebt und als Weißhelm tote Kinder aus den Trümmern geborgen. Er gibt einen Einblick in einen undurchsichtigen Konflikt
Krumbach Die meisten Revolutionen in der Geschichte haben einen entscheidenden Punkt, an dem sich der anfangs unorganisierte Unmut in Proteste ausweitet und zum gewaltsamen Umsturz oder Bürgerkrieg wendet. In Syrien nimmt diese Entwicklung ihren Lauf in der Stadt Daraa, als Proteste wegen der Inhaftierung von fünf Buben, die ein regierungskritisches Graffiti an eine Wand gesprüht hatten, eskalieren. Omar hat diesen Moment als Augenzeuge erlebt. Der 31-jährige Syrer hat in Krumbach Asyl erhalten. Seinen richtigen Namen will er nicht nennen, weil die Kritik am Regime Assads für seine Verwandten, die zum Teil noch in seiner Heimatstadt im Norden Syriens leben, tödlich sein kann.
Er sei damals 2011, als überall in der arabischen Welt Proteste aufflammten, nach Abschluss seines Informatikstudiums als Militärdienstleistender in der syrischen Armee in Daraa stationiert gewesen. Als auch in Daraa die Menschen auf die Straße gehen und ihre Stimme gegen die Regierung erheben, reagiert die Staatsmacht mit Gewalt. Einer der Soldaten habe sich geweigert, mit scharfer Munition auf die friedlichen Demonstranten zu feuern, sagt Omar. Daraufhin sei er vor den Augen der anderen Soldaten von einem Offizier erschossen worden. Später, als die Truppen vorrücken und die Demonstranten einzukesseln versuchen, wird Omar von einer explodierenden Granate getroffen. Zwei seiner Kameraden seien dabei getötet worden, Omar hatte mehr Glück. Doch die Explosion verletzt sein Bein schwer. 36 Schrapnellsplitter bleiben in seinem Knie stecken, wie das Röntgenbild, das Jahre später im Günzburger Krankenhaus gemacht wird, zeigt. Omar sagt, er habe gesehen, wie Angehörige des syrischen Militärgeheimdienstes die Granate von einem Haus aus abgefeuert hätten. Er habe sie an der Farbe der Erkennungszeichen ihrer Uniform erkannt. Ob das stimmt, lässt sich nicht überprüfen. Omar behauptet, der Angriff auf die eigenen Leute soll als Rechtfertigung für die blutige Niederschlagung des Aufstandes gedient haben.
Mit diesem Wissen habe er nicht mehr zu seiner Einheit zurückkehren können, sagt Omar, der als Angehöriger der Ismailiten, einer schiitisch geprägten Minderheit, ohnehin kein besonders großes Vertrauen im Syrien Assads genoss. Anwohner helfen dem verletzten Soldaten und zerren Omar von der Straße in ein Haus. In der Armee als vermisst gemeldet, gelang es Omar über die Grenze in die Türkei zu einem Onkel zu gelangen, wo er sich in Antakya in einem Krankenhaus behandeln ließ. Durch seine Desertion automatisch in die Opposition geraten, schloss sich Omar in Antakya einer zivilen Hilfsorganisation an, die in dem, der Kontrolle der syrischen Regierung, entglittenen Norden Wiederaufbauhilfe leisten wollte. Unterstützt und finanziert wurde die Organisation von der Assistance Coordination Unit, einer Art Dachverband verschiedenster Hilfsorganisationen, mit Sitz in der Türkei.
Nach seiner Genesung war Omar im Auftrag seiner Hilfsorganisation etwa ein Jahr lang in der Gegend um die syrische Stadt Idlib unterwegs, um verschiedene zivile Projekte umzusetzen. Eines davon war die Organisation freier Kommunalwahlen in den vom Assad-Regime befreiten Gemeinden rund um Idlib. In Omars Augen waren das die ersten freien Wahlen in der Geschichte seines Landes. Allerdings brachte ihn diese Arbeit in Konflikt mit der Nusra-Front – eine dem IS nahe stehende und von den UN als Terrororganisation eingestufte Gruppe – die das Ergebnis der Kommunalwahlen nicht akzeptierte. Stattdessen wurden die Mitglieder der Hilfsorganisation mit dem Tod bedroht.
Unter diesen Umständen zog es Omar vor, sich nach einem anderen Arbeitgeber umzusehen. Er heuerte als eine Art Bürgerreporter bei dem oppositionellen Medienportal Shaam News Network an. Für das Medium machte er Videos und kleinere Berichte über die Luftschläge der syrischen Armee und ihrer Verbündeter. Dazu schloss er sich dem syrischen Zivilschutz – besser bekannt als Weißhelme – an. Die Organisation hat ihren Sitz in Großbritannien und ist in den von oppositionellen Gruppen beherrschten Landesteilen Syriens aktiv. Finanziert wird sie vor allem von den USA, Großbritannien, Deutschland und den Niederlanden. Vordergründig geht es den Weißhelmen darum, nach Bombenangriffen Verletzte aus den Trümmern zu retten und Leichen zu bergen. Daneben tritt die Organisation auch für einen Regimewechsel in Syrien ein. Omar sagt, er sei aufgrund seiner Verletzung weniger an Rettungseinsätzen beteiligt gewesen. Er habe sich in der Organisation eher um „Logistik und Koordination“gekümmert. Dennoch habe er zahllose Verletzte und Tote gesehen. Die Bilder getöteter Kinder, im Schutt der zerbombten Häuser, gehen ihm bis heute nicht aus dem Kopf. Er sei in dieser Zeit ein anderer Mensch geworden, sagt er. Irgendwann kam er an einen Punkt, an dem er nicht mehr weitermachen konnte. Hinzu kam die Bedrohung durch die Nusra-Front, bei der sein Name auf der Todesliste stand. In einer Gegend, in der die Herrschaft über ein Gebiet schnell wechseln kann, fühlte er sich zunehmend unsicher. Weil er auch in seine Heimatstadt, wo seine Frau bis heute lebt, nicht zurückkehren kann, entschloss er sich zur Flucht.