Guenzburger Zeitung

„Ein Gespür für den Mantel der Geschichte“

Nachruf Helmut Kohl ist tot. Wenige Monate bevor die deutsch-deutsche Grenze durchlässi­g wurde, kam der Bundeskanz­ler 1989 mit Frankreich­s Staatspräs­ident Francois Mitterrand nach Günzburg. Das hat ein bisschen was mit Napoleon zu tun, aber mehr mit seine

- VON TILL HOFMANN

Das hatten die Günzburger so noch nicht gesehen: Ein deutscher Bundeskanz­ler, der ein gutes Jahr später zum „Kanzler der Einheit“werden sollte und ein französisc­her Staatspräs­ident schlendern über den Marktplatz der Stadt. Wobei – von Schlendern kann eigentlich keine Rede ein. Denn der Andrang war ungeheuerl­ich an diesem 4. April 1989. Viele wollten einen Blick von dem 1,93 Meter großen und Raum füllenden Helmut Kohl erhaschen und vom mächtigste­n Mann Frankreich­s, Francois Mitterrand. Die Beiden waren ein ziemlich ungleiches Paar – und das war nicht nur auf die unterschie­dliche Körpergröß­e bezogen. Mitterrand war sichtbar zurückhalt­ender als sein Gastgeber – und er war von der falschen Fraktion. Doch der französisc­he Sozialist und der deutsche Christdemo­krat entwickelt­en eine persönlich­e Freundscha­ft, die verschiede­ne politische Einstellun­gen kraftvoll überwand.

Warum nun der Besuch in Günzburg vor 28 Jahren? Das erklärt einer, der es wissen muss: „Das war wohl eine Geste mir gegenüber“, sagt der frühere Finanzmini­ster Theo Waigel gestern Abend im Gespräch mit der Günzburger Zeitung. Seit dem deutsch-französisc­hen Freundscha­ftsvertrag 1963 treffen sich maßgeblich­e deutsche und französisc­he Politiker regelmäßig. Waigel hatte Kohl die Reisensbur­g als Konferenzo­rt vorgeschla­gen.

Der französisc­he Präsident kam auch als Schuldner nach Günzburg. Denn im Jahr 1805 hatte einer seiner Vorgänger, Napoleon, im Günzburger Schloss Quartier genommen und keine Lust, dafür zu bezahlen. 463 Gulden seien seinerzeit aufgelaufe­n, erzählte der damalige Günzburger Oberbürger­meister Rudolf Köppler. Heute wären das immerhin rund 8000 Euro. Mitterrand zahlte die Zeche mit einer Goldmünze, die anlässlich des 200-jährigen Jubiläums der Französisc­hen Revolution geprägt worden war. „Ich denke, sie stellt den Wert dar, die Napoleon nicht beglichen hat“, sagte er – und setzte hinzu: „Ich werde das aber noch nachrechne­n lassen.“

Theo Waigel hatte ab diesem 4. April 1989 viel nachzudenk­en. „Auf dem Flug von Bonn nach Leipheim hat mir Helmut Kohl das Amt des Finanzmini­sters angeboten.“Zweieinhal­b Wochen später wurde der Bub aus Oberrohr der Nachfolger Gerhard Stoltenber­gs und gehörte drei Kohl-Kabinetten an – bis 1998.

„Treue, Verlässlic­hkeit und Standhafti­gkeit“nennt Waigel als herausrage­nde Eigenschaf­ten des am Freitag verstorben­en Altkanzler­s. „Und ein Gespür für den Mantel der Geschichte.“Die „starke menschlich­e Komponente“Kohls habe eine wichtige Rolle bei der Wiedervere­inigung der beiden deutschen Staaten gespielt. Er habe George Bush, Michail Gorbatscho­w und die europäisch­en Verbündete­n durch seine Art überzeugen können. „Das haben viele, die sich klüger dünken, ihm nicht zugetraut“, sagt der CSU-Ehrenvorsi­tzende.

Helmut Kohl und Theo Waigel waren weit mehr als politische Weggefährt­en. Als sich Waigel 2002 aus der aktiven Politik zurückzog, dankte ihm der Altkanzler für seine Leistungen in Krumbach. Das Zelt vom Volksfest stand noch. Aber so voll war es während der Festtage wohl nie. Die Leute auf den Bierbänken wussten: Da oben schauen sich zwei wahre Freunde tief in die Augen – und vielleicht bildete sich da gerade irgendwo ein Tränchen.

Kohl und Waigel ließen den Kontakt nicht abreißen. Seinen 84. Geburtstag feierte der Kanzler der Einheit, der auf Reha am Tegernsee war, mit seiner Frau Maike KohlRichte­r, bei den Waigels in Seeg (Ostallgäu). Dreimal habe Helmut Kohl das Dominikus-RingeisenW­erk in Ursberg besucht. Ihm seien die Menschen wichtig gewesen – gerade auch die, die es nicht leicht im Leben hatten, sagt Waigel. Leicht waren auch die durch Krankheit geprägten letzten Jahre Kohls nicht. Theo Waigel war vom Tod seines Freundes nicht wirklich überrascht. Kohls Frau hatte vor einigen Tagen angerufen und mitgeteilt, dass es nicht gut um den 87-Jährigen steht.

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Foto: Fred Schöllhorn
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Foto: Ulrich Wagner
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Foto: Ulrich Wagner

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